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Zirkus-Konzept von Till Lindemann: Stuss in der Manege

In Berlin zeigt sich der Zirkus wieder so, wie er nie war: ein kaum zu unterbietendes Tingeltangel nach einem Konzept von Rammstein-Frontmann Till Lindemann

Wenn es etwas gibt, das man über den Zentralen Festplatz in Nordwest-Berlin, wo das Zirkusspektakel »The Greatest Comedian Freakshow« standesgemäß im Zelt stattfindet, nicht sagen kann, dann, dass er besonders zentral gelegen wäre. Und so beginnt dann auch mit einer Reise ins Abgelegene ein Abend, der Erwartungen konsequent unterläuft, wenn auch nicht auf die gute Weise. Man könnte auch sagen: der Erwartungen zielstrebig unterbietet.

Der Weg zum Flic-Flac-Zirkuszelt führt einmal quer über den Platz, der noch bis zum 1. Mai das 51. Berliner Frühlingsfest beherbergt (an dieser Stelle sei meine wärmste Empfehlung ausgesprochen). Ein richtiger Rummel! Es gibt wohl kaum etwas, das eine so traurig-schöne Atmosphäre verbreitet wie ein halbleerer Jahrmarkt. Überlaute Musik – dazu der Blick auf ein Riesenrad ohne Passagiere; der durchdringende Geruch von Zuckerwatte –, zu haben nicht ohne das melancholische Bild einer verwaisten Achterbahn. Hier wird ein buntes Programm aufgefahren, und die Zuschauerschar goutiert es mit gemütlicher Unaufgeregtheit.

»The Greatest Comedian Freakshow« ist mäßig besucht. Das Publikum nimmt’s auch hier gelassen. Eröffnet wird das Spektakel mit Live-Musik; die Bandmitglieder sind allesamt kleinwüchsig. Ist das etwa die Spur einer Reflexion der zwiespältigen Zirkusgeschichte? Immerhin wurden noch im vergangenen Jahrhundert im Rahmen von Zirkus- und Jahrmarktsdarbietungen normabweichende Menschen als »Freaks« ausgestellt: Kleinwüchsige, siamesische Zwillinge, »Wolfsmenschen« und so weiter. Alle Hoffnungen sind unbegründet.

Till Lindemann, der das Konzept für die Zirkus-Show geliefert hat, steht mit seiner Band Rammstein für das Prinzip der künstlerischen Überaffirmation als Mittel der Subversion. Was aber bei den slowenischen Musikperformern Laibach, die Pate standen für das bravere Projekt Rammstein, in glücklichen Fällen produktive Widerstände in der Hörerschaft hervorruft, das gelingt bei dem biedermeierlich-deutschen Abklatsch selten. Nur auf den ersten Blick auf eine Schockästhetik abhebend, hat Rammstein schon immer auch den hürdenfreien Anschluss an den Massengeschmack gesucht. Und so ist auch der Auftritt von »Freaks« in dieser Show nicht der Versuch, das Publikum in eine Konfrontation zu bringen mit der bitteren Seite von Unterhaltungsformaten, sondern nur ihre Fortführung mit der wohlfeilen Geste, hier auch noch etwas Rebellisches zu tun.

Zu allem Unheil führt der gealterte Comedian Kay Ray durch den Abend. Er beschränkt sich nicht darauf, wie ehrenwerte Zirkus-Impresarios Stimmung für die kommenden Darbietungen aller Art zu machen, sondern versucht, das Publikum mit eigenen komödiantischen Nummern zu unterhalten. Auf wen er es abgesehen hat, macht er bald klar: Es ist die politische Korrektheit in unserer humorfeindlichen Gegenwart.

Nun ist es durchaus einleuchtend, dass im humoristischen Gewerbe Grenzen ausgelotet und auch gezielt überschritten werden. Selbst dass Grenzen schlechthin als Hemmung für den guten Witz empfunden werden, kann man vielleicht einsehen. Kritik an bestimmten Auswüchsen der politischen Korrektheit wurde verschiedenerseits klug formuliert und sollte uns allen zu denken geben. Bei Kay Ray, der sich nach eigener Auskunft für das Geschreibe in der Presse übrigens in keiner Weise interessiert, ist die vorgebliche Verteidigung des freien Wortes in seinem Programm allerdings vor allem die Rahmung für ebenso schlechte wie auch rassistische Witze. In selbstherrlichem Tonfall führt er aus, alle sollten über alle Späße lachen können und selbstredend auch über Deutsche. Was man dann aber zu hören bekommt, sind vorrangig solche über Muslime. Ein Witz, der auch etwas Selbstironie offenbart hätte, war in dieser 90-minütigen Show nicht zu vernehmen.

Kay Ray wartet mit einer illustren Binse auf: Wenn er einen Rollstuhlfahrerwitz erzähle und der Rollstuhlfahrer lache nicht, dann habe der Rollstuhlfahrer keinen Humor. Applaus. Auf die Idee, dass etwas an seinem Humor nicht stimmen oder auch einfach dass der Witz nur mäßig lustig sein könnte, kommt er nicht. Davon darf man an diesem Abend ebenfalls Zeuge werden: Standhaftigkeit auch angesichts abnehmenden Interesses.

Eine recht konventionelle Jonglage-Einlage wird dadurch ins pseudo-aufmüpfige Programm für Kleinbürger eingepasst, indem der Kleinkünstler vor jeder neuerlichen Verausgabung etwas weißes Pulver durch die Nase zu sich nimmt. So ungefähr stellt man sich, ist man nur lang genug mit verschlossenen Augen durch die Welt gegangen, den Konsum von Drogen vor.

Zwei Akrobatinnen der Gruppe Body Trapez versehen ihre Nummer mit einem Hauch BDSM-Ästhetik, aber bloß nicht so viel, dass unbescholtene Bürger dadurch in Aufruhr versetzt würden. Sobald aber halbnackte Frauenkörper in der Manege zu sehen sind, zücken jüngere Zuschauer – der Eintritt ist ab 16 Jahren zugelassen – ihre Smartphones, um munter zu fotografieren. Kaum vorstellbar, dass sie nicht zumindest digital schon Reizvolleres vor Augen hatten.

Ein australisches Bühnenduo präsentiert seinen Beitrag mit dem Titel »Puppetry of the Penis«. Die zwei Herren zeigen sich splitternackt und formen munter kommentierend mit ihren Penissen Figuren: ein Känguru, einen Vogel, eine Schnecke. Das dürfte für Menschen jenseits der Pubertät wenig ergiebig sein. Als gäbe es nicht Naheliegenderes mit einem Penis anzufangen oder als wäre es keine Option, ihn für ein paar Minuten am Tag unberührt zu lassen.

Tyler West, ein Performancekünstler mit Kleinwuchs, kostümiert sich als Spermium. Schwimmend und mit anderen Spermien ringend stellt er auf der Bühne seinen Weg zur Eizelle nach. Allein, so ganz neu ist dieser Vorgang wohl den wenigsten. Peinlich berührt fühlt man sich nicht durch den Gegenstand des Gezeigten, sondern durch die unwürdige Form.

Einzig El Tipo vermag für etwas Ambivalenz und damit für wirkliche Aufregung im Verlauf von »The Greatest Comedian Freakshow« zu sorgen. Der Darsteller mimt den Latino inklusive Machismo. Er holt sich eine »Chica« aus dem Publikum auf die Bühne, sehr zum Unmut ihres Mannes, den er fortwährend beleidigt, während der Bühnenflirt immer körperlicher wird. Als er der Frau unverhofft einen Kuss verpasst, applaudiert die Menge. Nur der Ehemann sitzt bockig da und verzieht die Miene. El Tipo entlässt also die Zuschauerin wieder auf ihren Platz, lässt alle Hüllen fallen und entpuppt sich selbst als Frau. Nun klatscht auch wiehernd der erleichterte Ehemann. Hier ist in wenigen Minuten ein Lehrstück gelungen über Borniertheit, Sexismus und Macho-Allüren – im Publikum.

Versöhnlerisch betreten zum Ende dieser Veranstaltung auf Kriegsfuß mit der politischen Korrektheit ein Akrobat aus Russland, gut erkennbar an der Flagge auf seinem T-Shirt, und ein Kollege ukrainischer Herkunft und mit körperlicher Beeinträchtigung, ebenfalls national gekennzeichnet auf seiner Kleidung, die Bühne. So viel Harmonie – am Rande zum Kitsch – muss offenbar doch sein. Ein bisschen politisch soll es wohl doch zugehen, um dann politische Probleme direkt kraft der Unterhaltungskunst aufzulösen. Man kommt aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr raus.

Nach dem Ende der Vorstellung zieht es mich nochmals auf den Rummel, vorbei an der »Wilden Maus« und an der Geisterbahn. Am Stand mit den Lebkuchenherzen nehme ich mir Zeit, um ein Exemplar auszuwählen. »Schatzi« sortiere ich aus – genug der Spießigkeit für einen Abend; »Muschi« und »Bitch« sollen es auch nicht sein – auch der verklemmten Anzüglichkeiten hatte ich heute genug. Ich nehme ein kleines Herz mit der Aufschrift »Strolch« mit nach Hause und träume von einem Zirkus, so aufregend und schön, wie er vielleicht nie war.

Nächste Vorstellungen: 13.–19. April, www.flicflac.de/freaks

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