»Schwarzfahren«: Bürger für Entkriminalisierung

Umfrage: Große Mehrheit findet, dass Fahren ohne Ticket nur noch eine Ordnungswidrigkeit sein sollte

Menschen, die in Bus oder Bahn ohne Fahrausweis erwischt werden, müssen in Deutschland eine Geldstrafe zahlen. Da das »Schwarzfahren« als »Erschleichen von Leistungen« und damit als Strafttat behandelt wird, droht den Betroffenen bei Nichtzahlung eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe. Nach Paragraf 265a des Strafgesetzbuchs (StGB) kann das »Erschleichen von Leistungen« mit einer »Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit einer Geldstrafe« geahndet werden.

Seit Jahren fordern soziale Bewegungen eine Entkriminalisierung des Fahrens ohne Ticket. Am Mittwoch hat die Onlineplattform für Informationsfreiheit »Frag den Staat« die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage von Infratest Dimap veröffentlicht, der zufolge 69 Prozent der Teilnehmenden sich dafür ausgesprochen haben, das »Schwarzfahren« nur noch als Ordnungswidrigkeit zu behandeln. Würde das von der Politik umgesetzt, entfielen auch die Ersatzfreiheitsstrafen.

Allerdings war zugleich die Hälfte der Befragten für eine Beibehaltung dieser Form der Haft. 45 Prozent wollten sie abschaffen, fünf Prozent machten keine Angaben dazu. Die Frage danach war zuerst gestellt worden.

Nach Angaben von Arne Semsrott, der auf fragdenstaat.de über die Umfrageergebnisse informierte, betrifft die Ersatzfreiheitsstrafe nicht nur vor allem Arme, sondern ist auch teuer für die Gesellschaft. Ein Hafttag koste den Steuerzahler bis zu 200 Euro.

Der Journalist und Aktivist Semsrott gehört zu den Gründern des »Freiheitsfonds«, der sich für die Abschaffung des Straftatbestands »Beförderungserschleichung« einsetzt. Der Verein kauft seit 2021 Menschen frei, die wegen Bagatelldelikten Ersatzfreiheitsstrafen absitzen. Nach eigenen Angaben hat er bislang insgesamt 716 Personen durch die Zahlung von 667 000 Euro aus Spenden die Freilassung ermöglicht – und damit dem Staat fast zehn Millionen Euro gespart.

Eine Umwandlung der »Beförderungserschleichung« in eine Ordnungswidrigkeit ist allerdings auch mit der Regierung von SPD, Grünen und FDP vorerst nicht in Sicht. Lediglich auf eine Halbierung der Dauer der Ersatzfreiheitsstrafen für »Schwarzfahrer« konnten sich Justizminister Marco Buschmann (FDP) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) Ende vergangenen Jahres nach langem Ringen einigen. Faeser hatte zunächst auch die Verkürzung der Haftzeiten generell abgelehnt und darauf verwiesen, dass sie dann auch Reichsbürgern und Personen nützen würde, die wegen gewalttätiger Übergriffe etwa auf Frauen solche Strafen absitzen.

Der Bundestag berät derzeit über eine Änderung des Sanktionenrechts, der zufolge die ersatzweise in Haft zu verbringenden Tage nur noch der Hälfte und nicht mehr der vollen Zahl der Tagessätze entsprechen soll, zu denen ohne Fahrschein angetroffene Personen verurteilt wurden. Nach Schätzung des Justizministeriums könnten die Bundesländer dadurch jährlich 60 Millionen Euro einsparen. Die erste Lesung der Gesetzesänderung fand am 15. März statt. Am Montag soll es dazu noch eine Anhörung von Sachverständigen im Rechtsausschuss des Parlaments geben.

Justizressortchef Buschmann hat indes versprochen, »im Laufe dieses Jahres« auch einen Gesetzentwurf zur Entkriminalisierung des »Schwarzfahrens« vorzulegen. »Das Fahren ohne Fahrschein gehört nicht ins Sanktionenrecht, sondern wird im Rahmen der von mir ebenfalls geplanten Reform des besonderen Teils des Strafgesetzbuches überprüft werden«, sagte der FDP-Politiker am Mittwoch in Berlin. Allerdings hält er sich noch bedeckt, in welche Richtung seine Reformpläne gehen werden. Dazu, wo er selbst genau in dieser Frage steht, lässt sich Buschmann nicht in die Karten schauen. Er habe dazu »eigene Vorstellungen, aber das werden wir erst in der Koalition besprechen«, sagte er.

Zumindest für Personen, die nicht wiederholt ohne Ticket angetroffen werden, könnte dies auch nach Ansicht des bayerischen Justizministers Georg Eisenreich als Ordnungswidrigkeit statt als Straftat behandelt werden. »Mir ist wichtig, dass nicht Menschen kriminalisiert werden, die einmal ohne Fahrschein unterwegs sind«, sagte der CSU-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. Zugleich betont er aber: »Notorische Schwarzfahrer sollen weiter mit einem Straftatbestand angemessen sanktioniert werden können.« Das schütze die Verkehrsbetriebe und die große Mehrheit der ehrlichen Kunden, die letztlich für die »Schwarzfahrer« mitbezahlen müssten. Eisenreich kann sich eine Abstufung zwischen Ordnungswidrigkeit und Straftatbestand in Wiederholungsfällen vorstellen.

Das Strafgesetzbuch kann nur vom Bund geändert werden. Die Justizminister der Länder hatten die Regierung auf ihrer Herbstkonferenz aufgefordert, tätig zu werden.

Nach Angaben des Freiheitsfonds sind 87 Prozent der Menschen, die wegen »Schwarzfahrens« ins Gefängnis müssen, arbeitslos. 15 Prozent von ihnen sind Wohnungslose, viele der Betroffenen sind nach Einschätzung von Fachleuten zudem suizidgefährdet.

Der Leiter der Justizvollzugsanstalt Berlin-Plötzensee, Uwe Meyer-Odewald, ist zudem der Überzeugung, dass viele der Menschen, die Ersatzfreiheitsstrafen absitzen, eigentlich schuldunfähig sind. »Es gibt Schätzungen, dass ungefähr 60, 70 Prozent massiv drogen- und alkoholabhängig sind«, sagte er dem Deutschlandfunk. Gerade weil aber die meisten wegen kleiner Delikte bestraft wurden, gebe es für die meisten von ihnen keine mündliche Verhandlung für sie und damit auch keine Prüfung der Schuldfähigkeit. »Ungefähr 95 Prozent dieser Fälle laufen im sogenannten Strafbefehlsverfahren ab. Das heißt, vor der Inhaftierung hat keine Richterin, kein Richter diese Menschen gesehen«, so Meyer-Odewald.

Insgesamt müssen in Deutschland nach Expertenschätzungen jedes Jahr rund 56 000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, ein Drittel von ihnen wegen kleinerer Eigentumsdelikte, meist Ladendiebstähle, und ein Viertel wegen »Schwarzfahrens«.

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