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Amstel Gold Race: Belastungssteuerung als neue Königsdisziplin

Tadej Pogačar ist beim Radklassiker Favorit – weil andere aussetzen, um Überbelastung zu vermeiden

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Die besseren Beine: Tadej Pogačar (l.) setzte sich bei der Flandernrundfahrt gegen Wout van Aert (r.) und Mathieu van der Poel durch.
Die besseren Beine: Tadej Pogačar (l.) setzte sich bei der Flandernrundfahrt gegen Wout van Aert (r.) und Mathieu van der Poel durch.

Beim Amstel Gold Race an diesem Sonntag will Tadej Pogačar eine Scharte auswetzen. Bei seinem bisher einzigen Start beim größten niederländischen Eintagesklassiker kam der Slowene nicht einmal ins Ziel. Das war im Frühjahr 2019, der ersten Profi-Saison des späteren zweifachen Tour de France-Siegers und frischgebackenen Triumphators der Flandernrundfahrt. »Ich weiß also, das Amstel ist ein langer und harter Parcours mit vielen Kletterpassagen«, sagte er jetzt auch voller Respekt vorab. Am Siegen soll ihn das aber nicht hindern. »Wir hatten bereits eine tolle Frühjahrssaison. Aber wir kommen zu den Ardennenklassikern und wollen große Resultate einfahren. Den Anfang wollen wir beim Amstel machen«, sagte der Mann, der bei seinen bisherigen 16 Renntagen in dieser Saison zehn Siege einfuhr.

Mit Pogačar muss man also rechnen. Einhellig wird er in der Fachpresse als Top-Favorit herausgestellt. Die Konkurrenz ist auch dünner als gewohnt. Seine beiden härtesten Rivalen auf dem Klassikerterrain fehlen beim Rennen um das größte Bierfass – Namenssponsor Amstel verkauft weltweit (meist schlimm schmeckendes) Bier: Sowohl Wout van Aert, der hier 2021 gewann als auch der Sieger von 2019, Mathieu van der Poel, lassen das Amstel aus.

Hintergrund ist die hohe Kunst des Kraftausdauersports: die Belastungssteuerung. »Ich mache jetzt mal eine Pause. Ich hatte mein bestes Frühjahr überhaupt. Aber jetzt muss ich auch mal den Stecker herausziehen«, sagte van der Poel nach seinem triumphalen Sieg beim Kopfsteinpflasterklassiker Paris–Roubaix am letzten Wochenende. Und zur großen Enttäuschung seiner niederländischen Landsleute wird er beim größten Eintagesrennen auf heimischem Boden tatsächlich fehlen.

Natürlich könnte van der Poel seine derzeit tolle Form noch nutzen, um beim Amstel und vor allem eine Woche später beim Klassikermonument Lüttich–Bastogne–Lüttich weiter vorn mitzumischen. Aber er hat seine Lehren aus manch Überbelastung gezogen. Im letzten Jahr plagten ihn immer wieder Rückenprobleme. Eher ausgebrannt als top in Form kam er zu Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften. Bei Olympia leistete er sich Konzentrationsfehler. Bei der WM in Australien war sein Nervenkostüm so dünn, dass ein Streit mit Party machenden Teenagern auf der Polizeistation endete. Van der Poel ist groß in vielem, groß auch in seinen Fehlern. Und jetzt ist er groß in der Disziplin, mal loszulassen, selbst wenn die Kräfte noch vorhanden scheinen.

Das ist die versteckte Königsdisziplin im Radsport. Auch Pogačar ist nicht schlecht darin. Er ließ nach seinem Sieg bei der Flandernrundfahrt Paris–Roubaix aus. »Das Rennen ist noch zu hart für mich. Ich muss ein paar Kilo zulegen und stabiler an den Handgelenken werden«, sagte der Slowene und verlängerte sein Formhoch im Training. Er hat die beiden großen Ardennenrennen im Visier, nach dem Amstel noch am kommenden Wochenende Lüttich–Bastogne–Lüttich. Danach setzt er ganz aus und konzentriert alle Kräfte für die Tour de France. »Man kann das machen, zwei Formhochs im Jahr, erst im Frühjahr bei den Klassikern und dann wieder bei der Tour de France. Aber man muss sehr genau justieren«, sagte Mauro Gianetti, Teamchef von Pogačars Rennstall UAE Emirates, zu »nd«.

Die Belastungssteuerung ist ein Mix aus Medizin, Trainingswissenschaft und Erfahrungswerten. »Das Schwierige ist, dass es kein Buch gibt, wo drinsteht: ›So muss es sein. So gewinnst du die Tour, diese Rennen musst du zuvor dafür fahren.‹ Das ist nicht wie in der Physik, wo du sagst: ›Okay, ich schmeiß was runter und das fällt auch runter‹«, sagt Dan Lorang trocken. Der Cheftrainer beim Rennstall Bora hansgrohe hat mit dem Australier Jai Hindley auch schon einen Fahrer zum Grand Tour-Sieg gecoacht. Das war im letzten Jahr beim Giro d’Italia. Als »Erfahrungswissen, kombiniert mit messbaren Parametern«, beschreibt Lorang dies gegenüber »nd«. Wichtige Messwerte liefern ihm zufolge das rote Blutbild, Herzfrequenzvariationen, Harnstoff- und CK-Messungen. Letzteres, Creatinkease, ist ein Enzym, das Aussagen über den Energiestoffwechsel in den Muskelzellen zulässt. Aber auch weichere Faktoren wie Ruhepuls, Schlaf und individuelles Körpergefühl des Athleten spielen eine Rolle.

Das alles ist wichtig für die Feinjustierung der Topform und der Spitzenbelastungszeiträume, wie aktuell im Falle von Pogačar, der Roubaix ausließ, das Amstel aber fährt, und im Falle von van Aert und van der Poel, die sich genau anders herum entschieden. Diese Parameter immer im Blick zu halten, ist aber auch für den Formaufbau allgemein und erst recht den verzögerten Formaufbau im Falle von Erkrankungen relevant.

Mit dem Berliner Max Schachmann, der bei den Ardennenklassikern eigentlich brillieren sollte, hat Lorang ein besonderes Sorgenkind. Nach längerer Rennpause aufgrund von Erkrankungen wird Schachmann, der beim Amstel schon einmal Dritter wurde, dieses Rennen noch auslassen. Er wird stattdessen bei der Tour of the Alps, die am Montag beginnt, an den Start gehen, und wenn das positiv verläuft, Lüttich-Bastogne-Lüttich fahren. »Nachdem er ein bisschen angeschlagen war, wollten wir ihn erst komplett gesund werden und dann in Ruhe trainieren lassen. Jetzt müssen wir realistisch sein, dass er das Rennen nutzt und vor allem fürs Team da ist, um in den späteren Rennen selbst richtig da zu sein«, erklärt Lorang.

Beim Heranführen im Training nach einer Krankheit gilt es stets, zunächst eine Ausdauerbasis zu legen, um dann die Intensität zu erhöhen. Die Intensität lässt sich aber nur erhöhen, wenn das Immunsystem komplett wiederhergestellt ist. Um diese Balance zu gewährleisten, müssen Entzündungsparameter kontrolliert werden – auf die man sich aber nicht blind verlassen sollte. »Das Tückische daran ist, dass das Immunsystem in dem Moment, in dem man nichts mehr misst, noch nicht stabil ist. Sondern man muss immer wieder noch mal ein paar Tage dazurechnen, damit es auch den nächsten Angriff von irgendwelchen Viren und Bakterien abwehren kann«, erläutert Lorang.

Gerade im klassischen Grippewelle-Frühjahr ist das keine ganz einfache Sache für Betreuer von Draußenathleten. Bereits die Teilnahme an solch überlangen Rennen wie dem 253 Kilometer langen Amstel Gold Race setzt also ein komplexes Vorbereitungsmanagment voraus.

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