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- Neofaschismus in Italien
»Silvio Berlusconi war eine große Hilfe«
Der Historiker David Broder über den erstarkenden Neofaschismus in Italien
Kürzlich hat die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni (Fratelli di Italia, FdI) ihre Unterstützung für einen Gesetzentwurf gegen den übermäßigen Gebrauch des Englischen in offizieller Kommunikation bekundet – was bei Teilen der Linken und der Liberalen Spott hervorrief. Übersehen sie das Gesamtbild?
Dieser Gesetzentwurf gehört zu einer viel umfassenderen politischen Agenda der Regierung, die nicht nur wütende Rhetorik ist, sondern die Neuformulierung der italienischen nationalen Identität als homogen zum Ziel hat. Dahinter steht die Pseudo-Theorie des großen Austauschs und der sogenannten natürlichen Familie und das zeigt sich beispielsweise in den jüngsten Maßnahmen zur Behinderung der Seenotrettung oder dem Stopp der Registrierung von Kindern gleichgeschlechtlicher Eltern.
David Broder ist Historiker an der Syracuse University in Florenz und Europa-Redakteur beim Jacobin Magazine. Sein neuestes Buch »Mussolinis Granchildren. Fascism in contemporary Italy« wurde diesen März bei Pluto Press veröffentlicht.
Hat dieser politische Schwerpunkt etwas mit der internationalen Rolle Italiens zu tun?
Melonis Regierung ist sich darüber im Klaren, dass sie sich an die internationale Stellung Italiens halten muss. Es ist unwahrscheinlich, dass es zu Konflikten über Defizit und Schulden oder Italiens Platz im Euro kommt. In der Diskussion über die italienische Politik gibt es eine gewissen Tendenz zu sagen, dass Meloni am Ende gar nicht so schlimm sei. Dieses Urteil beruht zum Teil auf einem Missverständnis darüber, was sie vorhatte. Selbst die neofaschistische Partei der Nachkriegszeit, der Movimento Sociale Italiano (MSI), akzeptierte stets Italiens Rolle als Juniorpartner im euro-atlantischen Bündnis, und Meloni ist heute darauf bedacht, ihre Loyalität zur EU und Nato zu zeigen. Der Schwerpunkt der reaktionären Agenda der FdI liegt im Inland, und je mittelmäßiger die Wirtschaftsleistung, desto eher wird sie hier ihre politischen Vorstellungen durchzudrücken versuchen. Dazu gehört die Darstellung Italiens als Opfer von Migration und LGBT-Lobbys oder gar des Zweiten Weltkriegs, sodass es sich verteidigen müsse.
Wie wichtig ist diese Opfererzählung?
Die Debatte über den Zweiten Weltkrieg ist in der italienischen Gesellschaft sehr präsent. Die Rechtsextremen konzentrieren sich dabei auf Jugoslawien und die Verbrechen der kommunistischen Partisanen, wobei sie nicht erwähnen, dass Italien in Jugoslawien einmarschiert ist. Für Meloni ist es auch wichtig, auf die Opfer des Antifaschismus der Nachkriegszeit zu verweisen und zu behaupten, dass es sich um eine gewalttätige kommunistische Hegemonie handelte, die die Rechte kriminalisierte. Sie versucht, die öffentliche Diskussion über die Erinnerungskultur in Italien mit der in Polen, Ungarn oder Litauen vergleichbar zu machen, wo der Antikommunismus das vorherrschende Paradigma ist und 1945 nicht als Befreiung wahrgenommen wird.
Wie konnte der Faschismus in Italien überleben?
Es gab nicht nur keine allgemeine Säuberung des Staatsapparats, auch wurde einer faschistischen Wiederbelebungspartei erlaubt, sich weiter zu organisieren. Als der MSI gegründet wurde, durfte niemand beitreten, der Mussolini nicht bis zum Ende der Republik von Saló unterstützt hatte. Es gab keinen Cordon sanitaire, es war immer Mobilisierung erforderlich. Als die Konservativen 1960 versuchten, den MSI zur Unterstützung einer Regierung zu bewegen, kam es zu massiver Gegenwehr, die das Ende solcher Vereinbarungen erzwang. Dies bestätigte den MSI jedoch auch in seinen Selbstverständnis als unterdrückte Minderheit, welche die Flamme, die symbolisch an den Faschismus erinnert, am Leben erhält. Als das übrige politische System am Ende des Kalten Krieges zusammenbrach, was mit einem großen Korruptionsskandal zusammenfiel, überlebte der MSI in der neuen Ära, da er in keines der beiden Ereignisse verwickelt war. Eine große Hilfe war Silvio Berlusconi, der ihn als gemäßigt und antikommunistisch legitimierte, als er ihn 1994 erstmals in seine Regierung holte. Dies war auch eine Zeit des Wandels in der italienischen Politik: Die politische Gewalt war seit den 1970er Jahren zurückgegangen und Italien wurde stärker in die EU integriert. Der MSI machte vieles davon mit und änderte sogar seinen Namen in Alleanza Nazionale. Die FdI lehnt das Erbe dieser Zeit ab.
Ist die FdI radikaler?
Ich behaupte, dass dies auch eine Frage der Generation ist. Gianfranco Fini, der damalige Parteivorsitzende, erlebte die bleiernen Jahre und hatte das Bedürfnis, sich freizusprechen, indem er die Vergangenheit kritisierte und den Neofaschismus auf eine von mehreren rechten Strömungen innerhalb der Partei reduzierte. Indem er sich verbal zu antifaschistischen Werten bekannte, ging er viel weiter als nur den Antisemitismus zu kritisieren. Meloni verfolgt einen anderen Ansatz, indem sie erklärt, dass die Vergangenheit der Vergangenheit angehört. Damit geht sie implizit von einem viel engeren Begriff des Faschismus aus als der MSI-Gründer Giorgio Almirante, der stets behauptete, der Faschismus sei eine gesellschaftliche Tradition, eine Reihe von Werten und Ideen, die das Jahr 1945 überdauern könnten. Sie spricht vom Faschismus, als ob es nur um das Regime ginge, lobt aber Almirante als politischen Helden, der die Partei am Leben hielt und deutet damit implizit die faschistische Kontinuität an. Aber dann behauptet Meloni, die 1992 in die Politik eintrat, dass der MSI den Antisemitismus schon vor Jahrzehnten verurteilt hätte, dass das alles Vergangenheit sei und keine Rolle mehr spiele. Für sie ist die Zeit der Entschuldigungen vorbei.
Was tun?
Italien hat drei Jahrzehnte stagnierender Wirtschaft, sinkender Löhne und eine sinkende Wahlbeteiligung der Arbeiterklasse erlebt. Die Wahlergebnisse der Rechten sind auch nicht mehr so hoch wie in der Vergangenheit, die FdI hat nur einen größeren Anteil an der Koalition. Die zusammengebrochene Linke muss sich erneuern, indem sie Nichtwähler erreicht, da sie kaum auf FdI-Wechselwähler setzen kann. Eines der notwendigen Instrumente dafür ist der Antifaschismus, aber er darf nicht nur reaktiv sein. Die Linke kann das Feld der Erinnerungskultur nicht den Postfaschisten überlassen, wie manche vorschlagen, sie braucht auch eine Zukunftsvision.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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