Sozialwahl 2023: Selbstbewusstsein gefragt

Die Sozialwahlen beginnen. So können Versicherte bei den Kassen mitbestimmen

Das Mitreden-Wollen hat es vielerorts vom Plakat noch nicht in die Realität geschafft.
Das Mitreden-Wollen hat es vielerorts vom Plakat noch nicht in die Realität geschafft.

Still und leise sollen sie diesmal nicht vorübergehen: Die Wahlen zur sozialen Selbstverwaltung in mehreren gesetzlichen Versicherungsarten. Mit diversen Veranstaltungen und Werbetafeln wurde vorab versucht, den Versicherten die Bedeutung ihrer Teilnahme klarer zu machen. Denn ob gesetzliche Unfall-, Renten- oder Krankenversicherung – häufig wissen die Beitragszahler nicht, dass sie in vielen Fragen etwas mitzureden haben. Beziehungsweise, dass es ehrenamtliche und eben wählbare Gremien gibt, die das in ihrem Namen tun und etwa die Verwaltungen kontrollieren.

Die Wahlen finden alle sechs Jahre statt, genau vor 70 Jahren gab es sie im Nachkriegs(west-)deutschland zum ersten Mal. Für den jetzigen Durchgang hat der Gesetzgeber einige Neuerungen festgelegt: So wurde das Unterschriftenquorum gesenkt und damit der Zugang erleichtert. Für die Vorschlagslisten wurde auch für die Renten- und Unfallversicherungsträger eine Frauenquote von 40 Prozent empfohlen, die es für die Verwaltungsräte der Krankenkassen schon gibt. Die gewählten Ehrenamtlichen haben zudem fortan einen Anspruch auf Freistellung und Fortbildung.

In diesem Frühjahr werden die Versichertenparlamente also wieder gewählt. Diese wählen wiederum die Vorstände der Kassen und kontrollieren deren Verwaltungen, teils in unterschiedlichen Bereichen: Bei der gesetzlichen Rentenversicherung entscheiden sie zum Beispiel über Strategien beim Thema Reha mit, etwa darüber, wo Kliniken gebaut werden, oder über Kann-Leistungen wie solche für die Kinder der Versicherten. Außerdem sind die Ehrenamtlichen an Widerspruchsausschüssen beteiligt, in denen darüber entschieden wird, ob bestimmte Leistungen von der Versicherung übernommen werden oder eben nicht.

Bei der Unfallversicherungen haben die Versicherten Einfluss auf die Festlegung des Gefahrtarifs, nach dem die Beiträge zu den Berufsgenossenschaften festgesetzt werden. Sie entscheiden hier also mit über die Finanzierung der Berufsgenossenschaften, die es für jede Branche gibt und in denen sich die Betriebe versichern müssen.

Bei der gesetzlichen Krankenversicherung wird unter anderem der Beitragssatz gesetzlich festgelegt. Über die Leistungen, die im Gesundheitswesen von den Kassen erstattet werden müssen, entscheidet wiederum der Gemeinsame Bundesausschuss für das Gesundheitswesen. Die Kassen selbst und damit auch ihre Ehrenamtlichen können aber die Höhe des Zusatzbeitrages festlegen. Zudem geht es hier um Satzungsleistungen, die jede Kasse zusätzlich gewähren kann. Thematisch betrifft das etwa Präventionskurse, bestimmte Schutzimpfungen, Therapien der Naturheilkunde oder die Gewährung von Haushaltshilfen im Krankheitsfall. Die Ehrenamtlichen haben außerdem Einfluss auf die innere Organisation der Kassen sowie auf mögliche Fusionen mit anderen Versicherern.

Für diese Wahlen können Listen aufgestellt werden. Besonders engagiert sind hier seit Jahrzehnten die Gewerkschaften. Das hat auch damit zu tun, dass die Hälfte der Vertreter in den Versichertenparlamenten von den Arbeitgebern gewählt werden. Auch bei den Sozialwahlen halten die Gewerkschaften an bestimmten Prinzipien fest, bei Verdi ist es zum Beispiel die Frauenquote.

Der eigentliche Wahltag ist der 31. Mai 2023. Die Abstimmung findet jedoch als Briefwahl statt: Seit dem 20. April werden die Unterlagen verschickt. Mitglieder der Ersatzkassen können auch online wählen. Bei einigen Trägern, vor allem bei der gesetzlichen Unfallversicherung, ist das Angebot durch sogenannte Friedenswahlen eingeschränkt: Entspricht zum Beispiel hier die Zahl der Kandidaten genau derjenigen der zu vergebenden Mandate, fällt die Wahlhandlung aus.

Die Möglichkeit der Friedenswahlen ist vermutlich ein Faktor, warum die Sozialwahlen insgesamt immer noch wenig bekannt sind. Ein weiterer Punkt ist, dass das Interesse der Politik an diesem Bereich der Mitbestimmung eher gering ist. Jedoch gab es in den vergangenen Jahren Bestrebungen, auch diese Option für Beitragszahler und Versicherte insgesamt einzuschränken. Der Verwaltungsrat im Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sollte ohne Ehrenamtliche arbeiten – eine solche Änderung wurde aber verhindert. Eingeschränkt wurde die soziale Selbstverwaltung aber auch dadurch, dass die Regierung den Abbau von Kassenrücklagen anordnete und damit den Spielraum für Leistungen verringerte. Bislang galt für die Politik zwar, dass die soziale Selbstverwaltung nicht eben so wichtig sei, aber auch nicht störe. In den genannten Konflikten zeigte sich aber, dass sie doch stören kann.

Zudem kann die soziale Selbstverwaltung den Rechtsweg nutzen: So wurde vor dem Bundessozialgericht die rechtswidrige Finanzierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus GKV-Mitteln beklagt und ein Ende dieser Praxis erreicht. Seitens der Forschung und etlicher Akteure in ihren Gremien wird der Selbstverwaltung mehr Selbstbewusstsein empfohlen. Der Handlungsspielraum bei den Kassen könne auch von innen erweitert werden: Das zeigte die Einführung der Gesundheitsberichterstattung mit Routinedaten, eingeführt in den 70er Jahren, oder die zunächst nur von einigen Kassen angebotenen Früherkennungsuntersuchungen seit den 60er Jahren. Inzwischen sind etliche davon allgemein zugängliche Kassenleistungen.

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