Abgeschlagen bei der Prävention

Fast Bummelletzter: Deutschland schneidet in einem neuen Index schlecht ab

Noch gar nicht aufgefallen: Wenn die Tankstelle zum Supermarkt wird, gibt es dort eben auch Alkohol.
Noch gar nicht aufgefallen: Wenn die Tankstelle zum Supermarkt wird, gibt es dort eben auch Alkohol.

Seit 2023 liegt Deutschland bei der Lebenserwartung unter dem EU-Durchschnitt. Gemessen an der Wirtschaftsleistung wendet aber kein Land in Europa mehr für die Gesundheit auf als Deutschland: 2022 waren das 12,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, im gesamten EU-Raum lag der Wert bei 10,4 Prozent. Pro Kopf lagen diese Ausgaben in Deutschland bei 5300 Euro, 50 Prozent mehr als im EU-Durchschnitt. Die hohen Ausgaben führen auch nicht dazu, dass die Bevölkerung hierzulande besonders gesund wäre: Die Sterblichkeitsrate nach einem Herzinfarkt in der Akutversorgung liegt über dem OECD-Durchschnitt. Oder die Zahl der Klinikaufenthalte wegen chronischer Erkrankungen wie Diabetes, Asthma/COPD oder Herzinsuffizienz ist ebenfalls überdurchschnittlich hoch.

Wenn grundlegende Daten so ungünstig ausfallen, liegt die Frage nahe, ob Krankheiten nicht besser verhindert werden könnten – und was dafür nötig wäre. In diesem Zusammenhang wurde das Thema Prävention vom AOK-Bundesverband und dem Deutschen Krebsforschungsinstitut einmal ganz grundsätzlich angegangen. In einem gemeinsamen Projekt wurde ein neuer Public Health Index (PHI) entwickelt. Damit soll gezeigt werden, wie der Stand bei der Umsetzung wissenschaftlich empfohlener Maßnahmen zur Gesundheitsförderung in 18 europäischen Ländern ist.

In Deutschland sind hochprozentige Getränke praktisch immer erhältlich, zur Not an der Tankstelle, aber rund um die Uhr.

Auch hier stimmen die Ergebnisse nicht gerade optimistisch: In dem Ranking belegt Deutschland nämlich den 17. Platz von 18 möglichen. Bei den Themen Tabak, Alkohol und Ernährung wurden hintere Ränge belegt, bei Bewegung landen die Deutschen im unteren Mittelfeld.

Großbritannien, Finnland und Irland kamen aufs Podest: Sie erreichten die höchsten Punktzahlen im PHI, dicht gefolgt von Norwegen und Frankreich. Die Spitzenreiter setzten besonders viele der Maßnahmen um, darunter Mindeststandards für Schulessen, eine gesundheitsorientierte Steuerpolitik oder umfassenden Kinderschutz etwa durch Einschränkungen bei der Werbung. Deutsche Zustände im Vergleich: Es gibt keine bundesweit einheitliche und verbindliche gesetzliche Regelung für Schulessen, nur die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung als Leitlinie.

Oder die Verfügbarkeit von Alkohol: In Deutschland sind die hochprozentigen Getränke praktisch immer erhältlich, zur Not eben an der Tankstelle, aber rund um die Uhr. Unter anderem in Norwegen gibt es für die Interessenten nur lizenzierte Geschäfte, die auch nur tagsüber geöffnet haben. Erst Kunden ab 20 Jahren dürfen hier einkaufen. In Deutschland können 16-Jährige schon regulär Bier, Wein und Sekt erwerben. Zudem ist Deutschland das EU-Land mit dem erschwinglichsten Alkohol.

Ähnliche Beispiele ließen sich in allen vier Handlungsfeldern finden. Dabei ist für den Index nicht entscheidend, welche Gesundheitsprobleme in den Ländern existieren, die im Ranking führend sind, erklärt Oliver Huizinga vom AOK-Bundesverband, etwa in Bezug auf Probleme mit Übergewicht und daraus folgenden Erkrankungen: »Länder wie Großbritannien haben ja die Maßnahmen gerade deshalb ergriffen, weil die Gesundheit in Teilen der Bevölkerung so schlecht ist«. Einschränkungen wie gestaffelte Besteuerungen zuckerhaltiger Getränke würden auch nicht sofort wirken, mitunter bräuchten nachhaltige Veränderungen Jahre bis Jahrzehnte.

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Der Spielraum, präventiv in die Gänge zu kommen, ist auch für ein großes und reiches Land wie Deutschland nicht unbegrenzt. Wo die Reise hingehen könnte, beschreibt Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer: »In den USA geht die Lebenserwartung zurück, das ist das erste Industrieland, in dem das passiert. Das steht Deutschland auch bevor, wenn wir nicht beherzt zum Beispiel alle Gesetzesvorhaben auf ihre gesundheitlichen Auswirkungen überprüfen.«

Weder die Medizin allein noch das Gesundheitsministerium auf politischer Ebene kann in Sachen Prävention alle Aufgaben lösen. »In Deutschland sind die Bedingungen so, dass es günstig ist, viel und falsch zu essen oder auch viel zu trinken«, kritisiert AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann. Aber mit Blick auf die gewährte Freiwilligkeit etwa für die Lebensmittelindustrie: »Auch wirtschaftsfreundliche Regierungen in unserer Nachbarschaft zeigen, dass die gesunde Wahl zur einfachen Wahl gemacht werden kann.« Gelingende Prävention würde die Krankheitslast senken, weiß nicht nur Reimann.

Insofern wird der Public Health Index nun alle zwei Jahre neue Hinweise geben, wo Deutschland konkret Präventionslücken schließen kann. Ausgeweitet werden soll die Zahl der berücksichtigten Länder, inhaltlich könnten die Bereiche mentale Gesundheit und Mediennutzung dazukommen.

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