Fred Gehler: Beharren auf der Poesie

Er war der letzte ostdeutsche Leiter des Leipziger Dokfilmfestivals: Zum Tod von Fred Gehler

  • Grit Lemke
  • Lesedauer: 4 Min.

Als ich 1995 bei der Dokfilmwoche, wie das Leipziger Dokumentarfilmfestival unter Eingeweihten bis heute heißt, als Pressesprecherin zu arbeiten anfing, bewirkte das in meiner Familie nur ein müdes Schulterzucken. Erst die beiläufige Erwähnung meines damaligen Chefs Fred Gehler verursachte Aufregung. Was für eine Ehre! Die Filmkritiken, die er in der DDR unter anderem für den »Sonntag« sowie »Film und Fernsehen« geschrieben hatte und dafür immer wieder mit Publikationsverbot belegt worden war, hatten auch in Hoyerswerda Kultstatus. Fred Gehler, der am 13. April 86-jährig in Leipzig verstarb und dessen Ableben außerhalb von Sachsen keinerlei Medienecho erfuhr, war nicht weniger als eine Legende.

Dies wurde er auch als Leiter des ebenfalls legendären Studiokinos »Casino« in der Innenstadt. Dorthin holte er alles, was in der DDR sonst kaum zu sehen war: osteuropäische Avantgarde, Filmgeschichte abseits des stets kolportierten »proletarisch-revolutionären« Kanons ebenso wie die großen Namen des westeuropäischen Kinos. Oft eingeführt vom Meister selbst (allein dies waren Grundlagenvorlesungen in Filmgeschichte und –analyse) und mangels Untertiteln auch von ihm eingesprochen. Standardwerke des Weltkinos verbinden sich für mich auf ewig mit dem weichen Singsang des Erzgebirgischen Sächsisch, in dem die Dialoge vorgetragen wurden. Oft genug begaben wir uns statt in den Uni-Hörsaal zum nur wenige Schritte entfernten »Casino«. Generationen lernten bei Gehler zu sehen, ohne den Zerrspiegel der Ideologie – eine Schule für weit mehr als »nur« die Filmkunst.

Von 1994 bis 2003 leitete er die Dokwoche – von der er wegen seiner kritischen Haltung zu Ostzeiten verwiesen worden war – als Direktor. Als erstes hatte er den (heute wieder eingeführten) Intendantenstatus beseitigt. Bei Gehler ging es um Film und nicht um Macht. Und es ging ihm darum, aufzuräumen mit dem Verständnis, der »Doggumendarfilm« – wie er bei ihm nur hieß – könne die »Wahrheit« erzählen. Kein Festival der »richtigen« Filme wollte er machen, sondern eines, das genau hinsieht und zum Widerspruch anregt.

Als er kam, befand sich das Festival in jeder Hinsicht – Bedeutung, Zuschauerzahlen, Finanzierung – auf dem Tiefpunkt. Unter seiner Leitung wurde es international wieder zu einer Größe (was danach fälschlicherweise oft bestritten wurde) – ohne die historisch gewachsene Bindung der Leipziger Normalbürger an das Festival aufzugeben. Gehler war nicht nur der letzte ostdeutsche Festivalleiter und in der Stadt zutiefst verankert, sondern auch der (mit ihm mittlerweile) ausgestorbene Typ eines Intellektuellen mit universeller und kulturell breit aufgestellter Bildung. Von ihm habe ich gelernt, Dokumentarfilm nie vom Inhalt her zu betrachten, sondern immer als Kunstform, die ganz selbstverständlich auch mit Literatur, Theater oder bildender Kunst in Beziehung zu setzen ist. Ein Beharren auf der Poesie als einzig mögliche Art der Weltbetrachtung. Und darin unerbittlich zu sein.

So verfügte er, dass die Dokwoche ihren Status als A-Festival – eine lächerliche und bis heute in der Filmwirtschaft als heilig erachtete Kategorisierung – aufgab, weil die vergebende internationale Produzentenvereinigung mehr Wert auf Akkreditiertenzahlen und Premieren statt auf Filme legte. So wie er auch eine deutsche Reihe eingeführt hatte, um Filmen, die einen anderen Blick auf das »angeschlossene Deutschland« warfen, Raum zu geben. Und diese Reihe kurzerhand wieder abschaffte, als der deutsche Film aufhörte, die Realität im eigenen Land künstlerisch komplex zu reflektieren.

Er bewahrte die Tradition umfassender Retrospektiven, etablierte für den Animationsfilm eine eigene Kuratierung und holte internationale Regiegrößen nach Leipzig, denn in der Filmwelt hatte sein Name Gewicht. Freundschaften verbanden ihn neben vielen osteuropäischen Regisseuren u.a. mit Peter Schamoni, Fernando Birri und Les Blank. Seine jährlichen Eröffnungsreden waren stets mit Spannung erwartete Essays und große Bestandsaufnahmen der Zeit. Es gab Sammler, die am nächsten Tag im Pressebüro erschienen, um eine Kopie davon zu ergattern. Statt eines Katalogvorworts sandte er auch schon mal ein Gedicht.

Nach ihm wurde aus Film »Industry« und die Dokwoche zu DOK Leipzig. Und es kam die Enthüllung, dass Gehler von 1968 bis 76 als IM »Walter« für die Stasi gearbeitet hatte. Trotz drückender Beweislast und 500-seitiger Akte bestritt er dies bis zum Schluss. Dabei ist gut vorstellbar, dass er als stets kritischer und unangepasster Filmkritiker und zugleich junger Familienvater seinerzeit erpressbar war. (Seine Familie war ihm stets das Wichtigste, danach kamen Filme und danach Wismut Aue.) Die Hintergründe werden nun unaufgeklärt bleiben. Vielleicht gründet hier seine radikale Abscheu vor Ideologie jeder – auch der neuen, marktwirtschaftlichen – Art und besonders im Bezug auf Kunst. Vielleicht mache ich auch seinetwegen was ich mache: Doggumendarfilm.

Grit Lemke arbeitete von 1991-2017 beim Leipziger Dokfilmfestival. Sie ist Autorin und Filmemacherin. Demnächst kommt ihr neuer Film »Bei uns heißt sie Hanka« in die Kinos.

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