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»Schulen dieser Welt« im Kino: Empathisch bis zur Schmerzgrenze

Im Dokumentarfilm »Schulen dieser Welt« werden drei Frauen porträtiert, die ihr Leben dem Kampf für die Emanzipation der Ärmsten der Armen widmen

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Regisseurin Émilie Thérond begleitet drei Lehrerinnen an drei unterschiedlichen Orten mit ganz unterschiedlichen Problemen.
Die Regisseurin Émilie Thérond begleitet drei Lehrerinnen an drei unterschiedlichen Orten mit ganz unterschiedlichen Problemen.

Wenn man im warmen Kino bei Chips und Bier filmisch die Realität großer Teile der Weltbevölkerung vorgeführt bekommt, ist das immer ein bisschen voyeuristisch und gleichzeitig wie ein Blick durch ein Fenster in eine andere Welt, auf einen anderen Planeten. Nichts von der totalen Armut, den auch oft rücksichtslosen patriarchalen Verhältnissen, die in großen Teilen der sonstigen Welt herrschen, kennt man als Bewohner*in einer der kleinen Wohlstandsinseln relativen Reichtums aus eigener Anschauung, jedenfalls nicht in den nackten existenziellen Formen. Der neue Dokumentarfilm »Schulen dieser Welt« von Émilie Thérond ist einer jener Filme, die uns diesen fremden Planeten sehr nahebringen.

Thérond begleitet drei Lehrerinnen an drei unterschiedlichen Orten mit ganz unterschiedlichen Problemen. Sandrine Zongo wird in Burkina Faso nach der Lehrerinnenausbildung in eine Schule irgendwo in einem kleinen Dorf zu ihrem ersten Job geschickt, 600 Kilometer entfernt von ihrer Heimatstadt Ouagadougou und ihrer kleinen Tochter. Die Schule besteht aus einer Hütte ohne Fenster. Sandrine soll dort über 50 Schüler*innen unterrichten. Sie scherzt bei der ersten Begegnung mit dem Schuldirektor: »Da habe ich ja eine tolle Stelle erwischt.« Und schon in diesen ersten Sequenzen zeigt sich die Stärke des Films. Thérond hat einen sehr einfühlsamen, oft auch humorvollen Blick auf ihre Protagonistinnen, hält dabei meistens zwar angenehm dokumentarische Distanz zu ihnen, schafft es aber gleichzeitig, sie mit wenigen Bildern und Sequenzen zu charakterisieren. So werden alle drei Frauen schnell Sympathieträgerinnen, ganz besonders Sandrine, die ihre enorme Aufgabe mit erstaunlich viel Einfühlungsvermögen und letztlich auch mit beeindruckendem Erfolg meistert.

Tausende Kilometer nordöstlich von Sandrines Hüttenschule lenkt Svetlana Vassileva in Ostsibirien einen Rentierschlitten. »Svetlana bringt ihr fahrendes Klassenzimmer bis in die entlegensten Lager der Taiga«, erfahren wir, und dass sie mit ihrer Zeltschule Kinder unterrichtet, die mit ihren Eltern jahreszeitabhängig umherziehen. Bevor der Unterricht losgehen kann, muss zunächst ein beheizbares Zelt aufgebaut und die Kinder müssen vom Sinn des Unterrichtsstoffs überzeugt werden, der unter anderem im Erkunden der eigenen, ewenkischen Kultur besteht.

Eine Schwäche von »Schulen dieser Welt« ist indes die nicht hinreichend sinnvolle Einordnung der vorgeführten Zustände in die Zusammenhänge der weltweiten Kapitalverwertung. Zwar muss nicht jeder Dokumentarfilm analytisch scharf feststellen, dass viele der gezeigten Probleme bei fairerer Verteilung des produzierten Reichtums zu beheben wären und auch Probleme der kulturellen Gleichmacherei oder die rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Grundlagen ihre Ursache im Zwang zur Mehrwertproduktion haben. Aber Thérond geht liberaler Ideologie auf den Leim, indem sie die brutalen Ergebnisse von Markt und Klimawandel vorführt und gleichzeitig via Voiceover feststellt: »Überall auf der Welt begegnen wir Frauen und Männern, die uns einen anderen Lebensweg aufzeigen. Ihr Erfolg ist ein Freiheitsversprechen.« Denn wir sehen ja im Film, dass diese isolierten persönlichen Einsätze gerade nicht ausreichen, um die Lebenswirklichkeit der Menschen nachhaltig zu ändern.

Am deutlichsten wird das vielleicht in Sunamganj, Bangladesch, wo die Monsune durch den Klimawandel heftiger werden und ganze Landstriche überfluten. Um die Kinder, die mit ihren Familien monatelang von den Schulen abgeschnitten sind, dennoch unterrichten zu können, werden schwimmende Schulen betrieben, also Boote, die die Schüler*innen morgens abholen und auf denen der Unterricht stattfindet. Die 22-jährige Taslima Akter, die auf einem dieser Boote die Kinder unter anderem alphabetisiert, kämpft nicht nur mit Wassermassen, sondern auch mit den patriarchalen Verhältnissen in Bangladesch, die dazu führen, dass ihre Schülerin Yasmin schon bald lieber verheiratet als unterrichtet werden soll. Taslima wehrt sich dagegen, besucht die Mutter des Kindes und übt Druck aus, um Yasmin im Unterricht zu halten. »Mädchen sollen alles tun können, was auch Männer tun, dieselben Rechte haben«, erklärt sie einmal ihren etwas verdutzten Eltern, die auch Taslima zur Heirat drängen wollen. In der nächsten Szene wohnen wir einem grässlichen Gespräch bei, in dem Yasmins große Schwester buchstäblich verhökert wird.

»Die Braut gefällt uns, wir nehmen sie. Wann werden Sie sie uns geben?« – »Wir können sie Ihnen am Montag geben.« – »Okay, wir tragen 200 000 Taka in den Ehevertrag ein.« 200 000 Taka sind umgerechnet 1,72 Euro.

Um ihrer Schülerin Yasmin ein solches Schicksal zu ersparen, kämpft ihre Lehrerin darum, dass sie in den Unterricht kommt. »Wenn meine Schüler zu oft fehlen, dann gehe ich und hole sie. Manche Eltern behandeln mich schlecht, dann gehe ich weinend. Aber ich gehe immer wieder hin. Was bleibt mir sonst übrig?«

Abgesehen von den geschilderten Schwächen ist Thérond mit »Schulen dieser Welt« ein überaus sehenswerter, auch sehr beeindruckend fotografierter, schöner Film gelungen. Und ein bemerkenswertes Porträt dreier bis zur Schmerzgrenze empathischer Frauen, die ihr Leben der Menschenfreundlichkeit und dem Kampf für die Emanzipation der Ärmsten der Armen widmen, indem sie Kindern Bildung und damit Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben zumindest ermöglichen.

»Schulen dieser Welt«: Frankreich, 2021. Regie: Émilie Thérond. Mit: Sandrine Zongo, Svetlana Vassileva, Taslima Akter. 85 Min. Start: 27. April.

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