Der letzte Pogo in Paris

Mehr als ein Krimi: Jérôme Leroy seziert in »Die letzten Tag der Raubtiere« die französische Zeitgeschichte und erzählt von den Gefahren für die Demokratie

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie gefährlich ist die Neue Rechte und wie viel autoritäre Demokratiefeindlichkeit schlummert eigentlich im politischen Alltagsbetrieb? Diesen Fragen geht der französische Autor Jérôme Leroy mit viel Gespür, Inspiration und einem Händchen für äußerst spannende Geschichten schon seit Jahren in seinen Polit-Krimis nach. Für den 1964 geborenen und in Lille lebenden Kommunisten, der selbst durch Antifa-Demos in den 1980er Jahren politisiert wurde, ist eine kritische Beschäftigung von links mit unserer politischen Wirklichkeit fester Bestandteil seines schriftstellerischen Selbstverständnisses.

In »Der Block« (2017) entwirft er eine Dystopie, in der eine dem Rassemblement National ähnliche Partei die Macht ergreift, wobei der Roman noch gleich eine ganze Geschichte der französischen Rechten und ihrer Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten mitliefert. Leroys Romane sind in einem parallelweltlichen Frankreich angesiedelt, sodass unsere politische und gesellschaftliche Wirklichkeit »verpixelt« wird. Der Autor verknüpft dabei Fiktion und Wirklichkeit auf faszinierende und ergiebige Weise. So liest sich »Der Block« wie eine literarische Antifa-Recherche. Nun legt Leroy mit »Die letzten Tage der Raubtiere« wieder einen Roman vor, der in diesem fiktiven Frankreich spielt und dennoch sehr nah an unserer Realität ist.

Diesmal stehen die Führungsfiguren einer Regierungspartei namens Nouvelle Société im Zentrum der Erzählung. Die ist ganz ähnlich wie Emmanuel Macrons »En Marche« (mittlerweile umbenannt in »Renaissance«) ein neoliberaler Schmelztiegel für Sozialdemokraten, Liberale, Nationalisten und einige rechte Law-and-Order-Politiker. Als Präsidentin Nathalie Séchard, in der Fiktion am selben Tag gewählt wie Emmanuel Macron, mitten in der Corona-Pandemie, während die Gelbwesten fleißig demonstrieren, sich die Schlagzahl der Aufstände in den Vororten erhöht und Umweltschützer alle Nase lang Straßen blockieren, beschließt, nicht mehr erneut für ihr Amt zu kandidieren, löst das einen Erdrutsch in ihrem politischen Umfeld aus. Wer wird der nächste Kandidat? Welcher Flügel in der Regierungspartei, die alle Lager in sich vereinen will, setzt sich durch? Schnell laufen sich der eher grüne Umweltminister Guillaume Manerville als Wunschkandidat der Präsidentin und der knallharte rechte nationalistische Innenminister Patrick Beauséant warm. Schließlich liegt der aus anderen Romanen von Jérôme Leroy schon bekannte Bloc Patriotique unter der Führung von Agnes Dorgelles (dem literarischen Alter Ego von Marine Le Pen) in den Umfragen vorne. Den Regierenden steht das Wasser bis zum Hals.

Leroys Roman wurde in Frankreich Ende 2021 im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen veröffentlicht, bei denen Emmanuel Macron im Gegensatz zur Fiktion sehr wohl wieder kandidierte und in der Stichwahl gegen Marine Le Pen gewann. Insofern lässt sich dieses Buch auch als literarische Intervention in die aktuelle politische Alltagssphäre verstehen. Der Autor entwirft eine komplexe Parteigeschichte, die vom Niedergang der französischen Sozialdemokratie erzählt und vom neoliberalen Neuanfang. Nur steckt in dieser Melange aus allen politischen Richtungen, die alle Bedürfnisse unterschiedlicher Wähler befriedigen soll, in der Fiktion eine größere demokratiegefährdende und autoritär-rechte Bedrohung, als das im ersten Moment den Anschein hat. Denn Innenminister Patrick Beauséant ist Mitglied eines Netzwerks, um beim Kampf um die Macht ganz vorne mitzupokern. Dabei tischt Leroy keine platten Verschwörungsmythen auf, sondern bringt ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber der politischen Klasse zum Ausdruck. Bald kommt es auch zu Terroranschlägen, und die ohnehin schon labile politische Situation gerät völlig außer Kontrolle. Eine langanhaltende Trockenheit inklusive Waldbrände lässt die Lage noch weiter eskalieren.

Neben der fiktiven Geschichte der französischen Parteien und des Politikbetriebs, der unheimlich lebendig in Szene gesetzt wird, erzählt Leroy auch von aktuellen linksradikalen Bewegungen. Denn die Tochter des Umweltministers nimmt an Blockadeaktionen teil und fährt mit ihrem Freund regelmäßig in selbstorganisierte linke Kommunen aufs Land. Ausgerechnet ihr Freund, ein erfolgloser Schriftsteller, wird Ghostwriter des Innenministers und sitzt im Lockdown einige Zeit auf dessen Landsitz fest, wo er eine Entdeckung macht, die für ihn schwere Konsequenzen nach sich zieht.

»Die letzten Tage der Raubtiere« ist ein unglaublich rasanter Roman, der den Leser von schicken Stränden Nordfrankreichs über die Wochenendresidenzen der Politprominenz, zu radikalen Demos und Blockaden der Umweltschützer, in Rückblenden aber auch zu den militanten Arbeitskämpfen der 1980er Jahre im Kohlebecken bis hin zu Lesungen in Paris, Verfolgungsjagden durch die französische Provinz und in diverse Feinschmeckerrestaurants führt. Leroys Bücher sind eben weit mehr als nur Krimis oder Thriller. Sie fangen die ganze Bandbreite der gesellschaftspolitischen und soziokulturellen Wirklichkeit Frankreichs ein.

Dabei arbeitet sich der Autor auch an diversen aktuellen Themen ab, inszeniert die Corona-Pandemie als Alltagsrealität und als politischen Zankapfel. Wobei ein Stück weit die Realität die Fiktion gerade zu überholen scheint. Denn die Rekordtrockenheit und die im Lauf des Romans eskalierenden Waldbrände als Vorboten eines Klimawandels sind in Frankreich in den vergangenen Wochen traurige Realität geworden. Wobei das in Leroys Roman in keiner Weise aufgesetzt wirkt.

»Die letzten Tage der Raubtiere« erzählt von einer ganzen Reihe sich verstetigender und gegenseitig überlagernder Krisen, die die Politik immer mehr unter Druck setzt. Nur sind die Politiker mit ihren Machtpoker beschäftigt und umkreisen sich gegenseitig wie die titelgebenden Raubtiere, um auf den passenden Moment zu warten und zuzuschlagen. Ganz am Ende findet der Roman eine ebenso verstörende wie verblüffende Auflösung, die hier nicht verraten werden soll. Zumindest lässt sich festhalten, dass Jérôme Leroys in seinen im fiktiven Frankreich angesiedelten Bücher von Mal zu Mal komplexer und mitreißender wird.

Jérôme Leroy: Die letzten Tage der Raubtiere. Edition Nautilus, 400 S., br., 24 €.

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