Es gab und gibt immer Alternativen

Ein global-geschichtlicher Blick auf das Krisenjahr 1923 eröffnet neue Perspektiven – auch auf Lücken

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Jubiläen sind für Historiker, Publizisten und Verlage ideal, um potenzielle Leser mit neuen und weniger neuen Einsichten zu beglücken. Das Jahr 1923 bietet Nachgeborenen reichhaltigen Stoff, sich nicht nur in der deutschen Geschichte umzusehen und sich mit dem Zwiespalt eines verflixten Krisenjahres sowie dem vermeintlichen Triumph der Weimarer Demokratie zu beruhigen: Auch künftige Krisen sind zu überstehen. Aber kann man sich wirklich dessen sicher sein?

Bringt ein erweiterter Blick, über Deutschlands Tellerrand hinausgehend, vielleicht andere Wahrheiten hervor? Hilft es uns in der Analyse heutiger Krisen weiter, wenn wir auf das Erdbeben von Kanto (Japan) schauen? Befördert die mit Entdeckung des Grabes von Tutanchamun durch Howard Carter ausgebrochene Ägyptomanie neue Einsichten? Was vermittelt uns die Erinnerung an die erste Bauhaus-Ausstellung in Weimar? Was lässt sich aus den Karikaturen und Satiren des »Simplicissimus« 1923 ableiten? Eröffnet Hans Falladas Roman »Wolf unter Wölfen« neue Zugänge zur damaligen Hyperinflation?

Sicher, es gab den ganz normalen Alltag auch 1923. Und doch war die Krisensignatur omnipräsent. Die Herausgeber nennen jenes Annus »das Krisenjahr schlechthin, ein Jahr, in dem die junge Republik nur haarscharf dem frühen Scheitern entging«. Die Besetzung des Ruhrgebietes durch Franzosen und Belgier zur Erzwingung der Reparationen und der »passive Widerstand« durch Arbeiter, Beamte und Unternehmer gehört dazu; die galoppierende Inflation seinerzeit schreckt bis heute. Und die versuchten linken Reformprojekte in Thüringen und Sachsen und die sozialdemokratische Bereitschaft, mit Kommunisten zusammenzuarbeiten, sowie deren gewaltsame Unterdrückung mittels »Reichsexekutionen« durch Berlin lassen ebenso wie der versuchte »Deutsche Oktober« der Kommunisten noch einmal die Ängste wie auch Hoffnungen – je nach Standpunkt – einer neuen »Novemberrevolution« und ihrer Niederwerfung aufflackern. Und schließlich ließ der Bürgerbräu-Putsch eines gewissen Adolf Hitler die Gefahr des Faschismus in jenem Jahr bereits aufscheinen.

Eckart Conze orakelt, dass »zur Bedeutung des Jahres 1923 (…) gerade in deutscher Perspektive seine Ambivalenz (gehört). Zur Überwindung der Katastrophe gehören ihre bleibenden Wirkungen. Die Demokratie wurde gerettet, aber sie blieb fragil.« Ja, im Idealfall kann all dies als Bewährungsstunde der Weimarer Republik durchgehen, wenn, ja wenn dieser vermeintlich ausgewogene Kampf gegen rechte wie linke Extremisten und der sich abzeichnende Ausgleich mit den Westmächten nicht eben genau ein Jahrzehnt später zum Verhängnis für Deutschland und die Welt geworden wäre.

Es ging und geht nicht um »Extremisten« welcher Couleur auch immer, sondern um die Entscheidung zwischen einer sozialistischen Perspektive und ihrer kapitalistischen Verhinderung, für die jede Alternative recht war (und auch heute sein könnte). Und das war das Scheitern der Novemberrevolution und der Erfolg der Gegenkräfte, die nur auf Zeit bereit waren, sich als Demokraten zu geben oder die verfassungsgemäße Ordnung zu akzeptieren.

Man kann aus diesem Jahreskaleidoskop viel lernen, weil es neue Horizonte eröffnet oder zumindest andeutet. Dennoch bleibt diese verdienstvolle Studie dem Zeitgeist verfangen, kann mit sozialistischen Alternativen nichts anfangen und klebt am Label »Demokratie«, ohne dieses konkret zu hinterfragen.

Und noch eine Blindstelle ist auszumachen: die Verbindung von nationaler und sozialer Befreiung. Die Entstehung der modernen Türkei aus der Erbmasse der Osmanen und der gegen den neu entstehenden Staat geführte Krieg finden zwar Beachtung; es wird daran erinnert, dass der mit dem Vertrag von Lausanne 1923 eingeleitete Friedensprozess vor allem auch ein »Bevölkerungstransfer« von Millionen Türken und Griechen war, der einen Weltkrieg später Nachahmung fand.

Hingegen wird Ereignissen im Nachbarland Bulgarien nicht die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Eine sich auf die Bauernschaft stützende, durchaus nationalistische und doch progressive Bewegung und Regierung wurden auf dem Balkan von den Rechten gestürzt. Spät erst erkannten die Kommunisten, die sich zunächst neutral verhielten, dass der faschistische Umsturz nicht nur ein Streit von Fraktionen der herrschenden Eliten war, sondern Grundstrukturen einer demokratischen Politik zugunsten einer vor allem gerade die Linken verfolgenden Diktatur hinwegfegte.

Ebenso bleibt die Analyse der erstarkenden Faschismen in Italien mit Mussolini, in Spanien mit Primo de Rivera sowie in diversen mittel- und osteuropäischen Staaten schwach und lückenhaft. Dabei gab gerade Mussolinis »Marsch auf Rom« für die Hitler-Putschisten das Vorbild ab. Es ist verlockend, über die »eisernen Chirurgen« im Kampf gegen Korruption und die Krise der Demokratie zu räsonieren, dass es aber um eine fatale Stärkung des repressiven Staates unter Anrufung einer »roten Gefahr« ging, bleibt in diesem Buch unterbelichtet.

Eine weitere Leerstelle sei benannt: die Hinwendung der Komintern (und der Sowjetunion) zu den nationalen, auch nationalistischen Befreiungsbewegungen, wie sie in jenem Jahr 1923 mit dem Bündnis von Kommunisten und Kuomintang in China versucht wurde. Ein gewagter Versuch, dessen Erfolg und blutiger Misserfolg dicht beieinander lagen, der aber eine neue Dimension von Erschütterungen des bisherigen hegemonialen Systems anzeigte, die sich bis in die heutigen Wirren und Neuordnungen fortschreiben.

Die Herausgeber resümieren: »Die Geschichte eines Jahres ist immer mehrdeutig und von widersprüchlichen Entwicklungen durchzogen – damit regt eine verdichtete Krisenzeit wie die dieses Jahres auch zum differenzierenden Blick auf gegenwärtige Entwicklungen an.« Dem ist zuzustimmen. Es gibt immer Alternativen. Das galt für damals und gilt für heute.

Detlev Mares/Nicolai Hannig (Hg.): Krise! Wie 1923 die Welt erschütterte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 240 S., geb., 40 €.

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