Flüchtlingsgipfel zulasten Geflüchteter

Bund und Länder feilschten am Mittwoch um die Kostenübernahme für Unterbringung von Asylsuchenden

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 4 Min.

Vor dem Bundeskanzleramt liegt ein frisch bemaltes Transparent: »Abschieberegime abschaffen« steht darauf in rot-schwarzen Buchstaben. Rund 100 Menschen haben sich hier am Mittwochvormittag zu einer spontanen Kundgebung versammelt, um vor dem sogenannten Flüchtlingsgipfel von Bund und Ländern gegen mögliche Asylrechtsverschärfungen zu protestieren.

Schon vorab hatte sich abgezeichnet, dass die Verhandlungen zwischen Ministerpräsident*innen und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zäh werden würden. Hauptstreitpunkt war die Finanzierung der Unterbringung, Versorgung und Integration der Schutzsuchenden. Wenig Dissens gab es indessen darüber, dass der Bund Migration stärker steuern solle. Im Klartext bedeutet dies zahlreiche Maßnahmen zulasten von Geflüchteten: Anker-Zentren, mehr sogenannte sichere Herkunftsstaaten, ausgeweitete Abschiebehaft sowie stärkere Abschottung an den Außengrenzen. Im Koalitionsvertrag hatten sich SPD, Grüne und FDP noch darauf geeinigt, das von Horst Seehofer (CSU) eingebrachte Konzept der Ankerzentren nicht weiterzuverfolgen.

Das Bündnis aus Menschenrechtsorganisationen kritisierte diese Tendenz am Mittwochvormittag: »Bei einem ›Flüchtlingsgipfel‹ eines demokratischen Staates sollte es darum gehen, wie geflüchtete Menschen geschützt und menschenwürdig untergebracht werden können und ihnen eine Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden kann«, sagt Leo Maier vom Vorstand von Rosa – Rolling Safespace im Gespräch mit »nd.DerTag«.

Dass es darum jedoch kaum geht, das steht auch für Pro Asyl fest: »Anstatt den Bundesländern bei der Finanzierungsfrage entgegenzukommen, will die Bundesregierung sie mit Gesetzesverschärfungen auf Kosten der Geflüchteten ruhig stellen. Innenministerin Faeser setzt dabei auf alte Seehofer-Rezepte, die den Druck auf geflüchtete Menschen erhöhen, sie isolieren und letztlich vor allem ein Ziel haben: dass möglichst wenige Fliehende nach Deutschland kommen«, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin der Organisation.

Erst eine Stunde nach dem geplanten Start des Gipfels begann eine Pressekonferenz zum Inhalt der internen Vorbesprechung der Ministerpräsident*innen. Die Vorsitzendenen der Ministerpräsidentenkonferenz zeigten sich dort entschlossen, von ihrer Forderung nach einer höheren Finanzierung durch den Bund nicht abzurücken: »Wir Länder sind uns einig und wir brauchen heute ein Ergebnis«, sagte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bei einem gemeinsamen Pressestatement mit seinem niedersächsischen Kollegen Stephan Weil (SPD).

Für die Bundesländer liegt die Lösung laut einer vorläufigen Beschlussvorlage in einer »atmenden« Regelung, die sich automatisch den jeweiligen Flüchtlingszahlen anpasst. »Die Planungssicherheit für die Kommunen ist zwingend notwendig«, betonte SPD-Ministerpräsident Weil. Der Bund verwies vor Beginn des Gipfels auf seine bereits geleisteten Beiträge in Milliardenhöhe.

In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 101 981 Asylerstanträge entgegengenommen. Das ist eine Zunahme der Antragszahlen um rund 78 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Hauptherkunftsländer waren seit Jahresbeginn Syrien, Afghanistan und die Türkei. Dazu kommen rund eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die keinen Asylantrag stellen müssen.

Clara Bünger, fluchtpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, sieht die Verantwortung für die Kosten ebenfalls beim Bund. »Nicht Geflüchtete sind das Problem, sondern mangelnde Infrastruktur. Anstatt eine flüchtlingsfeindliche Abschreckungspolitik zu forcieren, müssen wir uns Gedanken über eine pragmatische und solidarische Aufnahmepolitik machen«, sagt sie im Gespräch mit »nd.DerTag«.

In Vorgesprächen einigten sich die Ministerpräsident*innen auf ein gemeinsames Papier für die Gespräche mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und weiteren Vertretern der Bundesregierung.

Die Länder wollen an einem – bis 2021 aus ihrer Sicht bewährten – Vier-Säulen-Modell festhalten, zu dem vor allem die vollständige Erstattung der Kosten für Unterkunft und Heizung für Geflüchtete zählt. Außerdem pochen die Länder auf Zahlung einer monatlichen Pro-Kopf-Pauschale nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und eine Beteiligung des Bundes an den Kosten für Integration sowie für unbegleitete Flüchtlinge.

Die Ministerpräsident*innen wollten sich im Zweifel eher vertagen, als sich auf eine Einmalzahlung einzulassen. »Der Bundeskanzler und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder werden bis spätestens November 2023 erneut zusammenkommen, um über die konkrete Umsetzung dieses Modells abschließend zu beraten«, heißt es in ihrem Papier.

Für die Bundesregierung nahmen neben Scholz unter anderem Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), Finanzminister Christian Lindner (FDP) sowie Familienministerin Lisa Paus (Grüne) an den Gesprächen im Kanzleramt teil.  Mit Agenturen

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