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ESC 2023: Der brennende Drang nach Aktualität

Popmusik ist in der Krise, doch der ESC ist hochmodern und politisch: Morgen ist das Finale in Liverpool

  • Jens Buchholz
  • Lesedauer: 6 Min.

Das große Finale des 67. Eurovision Song Contest steigt am Samstagabend in Liverpool. Es ist die größte Castingshow der Welt. Und trotz des lauen Lächelns vieler Feuilletons ist es auch das politisch wichtigste popkulturelle Ereignis. Sämtliche Kampfzonen der Gegenwart saugt es in sich auf. Und relevant ist es allein schon wegen seiner gigantischen Reichweite.

Die britische Stadt Liverpool richtet das Ereignis stellvertretend für die Ukraine aus. Wegen des russischen Angriffskriegs kann die Show dort nicht stattfinden. Der Angreifer Russland und das mit ihm verbündete Belarus wurden von der European Broadcasting Union (FBU) von der Teilnahme ausgeschlossen. Die FBU richtet den ESC seit 1956 aus. Sie ist, das sollte man vielleicht wissen, eine Organisation von Rundfunkanstalten, nicht von Staaten. Ihr deutsches Mitglied ist der zur ARD gehörende NDR.

Der ESC läuft bereits seit November. Zuerst fanden die nationalen Vorentscheide in den 37 Teilnehmerländern statt, dann ging es in der vergangenen Woche während der Proben und den beiden spektakulären Semifinals in Liverpool weiter. 26 Teilnehmer treten auf, die »Big Five« Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien plus das letztjährige Siegerland Ukraine sind gesetzt. Moderiert wird das Großereignis von Graham Norton, der in Großbritannien vor allem durch seine eigene Show bekannt ist. Unterstützt wird er von der Schauspielerin Hannah Waddingham, die man aus »Game of Thrones« kennt. Außerdem dabei sind die »Britain’s Got Talent«-Jurorin Alesha Dixon und die ukrainische Sängerin Julia Sanina. Für Deutschland kommentiert dieses Jahr zum letzten Mal der stets souveräne Peter Urban. Ob sich Österreich einen Gefallen damit getan hat, den Indie-Songwriter Oli Schulz und das Investigativ-Multitalent Jan Böhmermann als Kommentatoren zu engagieren, wird sich zeigen. Denn deren ironisch-arroganter Blick auf den ESC spiegelt die Arroganz der deutschen Medienlandschaft und wird dem Ereignis nicht gerecht. Das zeigt sich schon an Böhmermanns diese Woche veröffentlichtem und ziemlich beklopptem Anti-ESC-Song »Allemagne Zero Points«.

Die Popmusik befindet sich schon seit einigen Jahren in einer Krise. Durch Shows wie »The Voice« und »DSDS« hat sie sich in ein statisches, klassisches Repertoire verwandelt. Die Teilnehmer eignen sich Performance-Skills an und imitieren Leidenschaft und Authentizität. Die größten Aufreger, die diese Casting-Formate hervorbringen, sind die toxischen Entgleisungen ihrer Juroren und das zerrüttete Privatleben der Teilnehmer. Gleichzeitig lösen sich die großen klassischen Starpersonas von den Individuen, die sie früher performt haben. Tina Turner ist im Musical »Tina« eher Epiphanie als Rolle. Abba haben sich sogar ganz von der Körperlichkeit gelöst und spuken als geisterhafte, alters- und zeitlose holografische Avatare im eigenen Museum. Und junge Bands hören sich an wie alte Bands. Pop hat sich in ein Mausoleum verwandelt. Der brennende Drang nach Aktualität, nach Politik, nach Tabubruch ist verschwunden.

Doch ausgerechnet der Eurovision Song Contest hat all das. Aktuelle politische Themen gehören inzwischen zur DNA des Events. Der ESC hat sich vom ziemlich drögen Schlager-Belanglosigkeits-Schaulaufen zu einem hochmodernen Format weiterentwickelt. Schon der zu Unrecht unterschätzte deutsche Vorentscheid »Unser Lied für Liverpool« hat das politische Potenzial aufgezeigt. Die Teilnehmer des Vorentscheids wurden von einer Jury ausgewählt. Ein weiterer Teilnehmer sollte über ein Voting auf Tiktok eine Whitecard erhalten. Marketingtechnisch ein cleverer Schachzug, um ein jüngeres Publikum an den ESC heranzuführen. Dass diese Whitecard dann ausgerechnet den Bumms- und Saufmusik rülpsenden Ikke Hüftgold ins deutsche Vorentscheidfinale gespült hat, war dann aber doch eine Überraschung. Hüftgolds »Song mit gutem Text« ist eine zynische Reflexion der »Layla«-Debatte im vergangenen Sommer über diesen misogynen Sauf-und-Sex-Schlager, den Hüftgold ebenfalls geschrieben hat. Das Publikum wollte Hüftgold nach Liverpool schicken, aber die Jury setzte ihn an den (verdienten) letzten Platz. So reichte es in der Gesamtwertung nur für Rang zwei. Prompt gab Hüftgold den ESC-Trump und behauptete, der NDR habe die Abstimmungsergebnisse manipuliert. Nach Liverpool fahren die gestandenen Glamrocker Lord of the Lost mit ihrem bitter-süßen Song »Blood and Glitter«.

Dieser Songtitel beschreibt den politischen Charakter des ESC in Zeiten des Ukraine-Krieges hervorragend: Es geht um Blut und Glitzer. Schon 2016 hatte die ukrainische Interpretin Jamala mit dem Titel »1944«, in dem es um die Deportation der Krimtataren unter Stalin geht, den ESC gewonnen. Und man darf nicht vergessen, dass der Siegertitel »Ein bisschen Frieden« von Nicole aus dem Jahr 1982 zwar ungeheuer kitschig war, aber auch ein Antikriegssong – das »Give Peace a Chance« des ESC. Wegweisend war auch Toto Cutugnos engagierter Pro-Europa-Titel »Insieme: 1992«.

Dass mit Russland ein Land suspendiert wurde, das einen Angriffskrieg führt, eine Autokratie ist und queerfeindliche Gesetze beschließt, ist ein starkes politisches Signal an alle Länder der EBU. Denn zu ihr gehören auch Rundfunkanstalten aus Ungarn, Polen und dem Vatikan, deren Regierungen für eine explizit queerfeindliche Politik stehen. Gerade der ESC ist Vorreiter in Sachen Queerness. Erinnert sei nur an die Gewinnertitel »Diva« von Dana International (1998), »Rise like a Phoenix« von Conchita Wurst (2014) und »Toy« von Netta (2018). Als letzten Sonntag in Liverpool die ESC-Willkommensparty gefeiert wurde, trat dort zum ersten Mal seit 1987 die Band Frankie goes to Hollywood auf, queere Vorreiter aus den 80er Jahren.

Auch 2023 gibt es im Finale provokante und interessante Songs: beispielsweise der Song »Mama ŠČ!« der kroatischen Band Let3. Die Band selbst wirkt, als hätte jemand Rammstein mit den Village People gekreuzt. Die sechs Mitglieder treten als schnauzbärtige Travestiediktatoren in ziemlich knappen Unterhosen auf. Ihren Song bezeichnen sie als Antikriegstitel, in dem ein Traktor metaphorisch für den belarussischen Staatschef Lukaschenko steht. Das letzte Album veröffentlichte die Band 2016: »Angela Merkel sere«, zu deutsch »Angela Merkel kackt«. Etwas gediegener fällt der Antikriegstitel aus der Schweiz aus. Remo Forrers Titel »Watergun« zitiert sogar John Lennons »I don’t wanna be a soldier«, hat aber sonst rein gar nichts mit dem friedensbewegten Ex-Beatle zu tun.

2010 hatte Deutschland mit Lenas »Satellite« einen letzten großen Triumph eingefahren. Seit 2019 ist der Stammplatz Deutschlands der letzte oder vorletzte Platz. Das ist auch das Ergebnis von über Jahre hinweg vom NDR verkorksten Vorentscheidungen. Die Teilnahme am ESC verlangt nicht nur nach einem gelungenen Song, sondern auch nach Erfahrung, Lobbyarbeit und finanzieller Unterstützung. Und wenn man, wie in den vergangenen Jahren oft Newcomer wie Jendrik (2021) oder Malik Harris (2022) ins Finale schickt, dann fehlt denen eben oft beides.

Während es in Schweden das traditionelle Melodifestivalen als Vorentscheid gibt und in Italien das San Remo Festival, gab es in Deutschland immer … ja, was denn eigentlich? Dieses Jahr jedenfalls war der Vorentscheid eine gelungene Veranstaltung und der Siegertitel wird von gestandenen Berufsmusikern dargeboten. Das könnte die Chancen verbessern. Aber die Konkurrenz ist groß. Loreen aus Schweden mit ihrem Titel »Tattoo« führt in den Listen der Buchmacher. Sie konnte den ESC im Jahr 2012 mit ihrem Titel »Euphoria« schon einmal für sich entscheiden. Die Interpreten aus Finnland und der Ukraine liegen auf den Folgeplätzen. Lord of the Lost liegen im hinteren Mittelfeld. Sie hätten auf jeden Fall eine gute Platzierung verdient.

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