Letzte Generation in Prag: Ohne Kleber und Beton

Die Letzte Generation hat es nicht leicht, in Prag Fuß zu fassen. Doch gehört wird sie trotzdem

  • Nico Graack, Prag
  • Lesedauer: 8 Min.
Arne Springorum ist eine markante Person in der Prager Klimaschutzbewegung. Er gründete dort die Letzte Generation mit.
Arne Springorum ist eine markante Person in der Prager Klimaschutzbewegung. Er gründete dort die Letzte Generation mit.

»Schön viel Platz lassen, nehmt euch bei den Händen – wie in der Schule!« Der Mann in der Warnweste grinst, als er das Megafon absetzt. Es ist Arne Springorum, und wir sind auf einer der ersten Aktionen der Letzten Generation in Tschechien (Poslední Generace). »Ihr F*tzen!«, schreit es aus einem Sportwagen, der kurz darauf den Motor aufheulen lässt. Arne winkt ihm ausgelassen nach. An seiner Brust steckt ein Button: Eine »30« in einem Herz. Das ist die einzige Forderung der Gruppe: ein Tempolimit von 30 km/h in der Prager Innenstadt. Statt vom Klima wird von Sicherheit, Luft- und Lebensqualität gesprochen, statt Sekundenkleber gibt es hier alle paar Tage Spaziergänge. Die Demo ist angemeldet. Als wir auf eine der Prager Hauptstraßen einbiegen, folgen die Demonstrierenden Springorums Aufforderung nur zögerlich.

»Wir haben Anfang März mit zwölf Leuten angefangen, nun sind wir schon 150«, freut er sich und wendet sich sogleich wieder der Demonstration zu, um ihr einzuheizen. »Guten Tag, wie geht es Ihnen?«, fragt ein junger Mann am Straßenrand Springorum spöttisch auf Deutsch. Er ist nämlich Deutscher, das haben seine Gegner schnell bemerkt. Und die sind zahlreich, auch innerhalb der Klimabewegung nennen ihn einige einen »Freak«. Der junge Mann am Straßenrand gehört zur spontan gegründeten »Schnellen Generation«. Auf seinem T-Shirt ist eine »120« in einem Herz – Mindesttempo für Prag, versteht sich.

Wer ist dieser Arne Springorum, der offenbar mit so wenigen Menschen für so viel Trubel in Prag sorgt? Und warum agiert die Letzte Generation dennoch so zaghaft? Wie funktioniert ihr Kampf, der eine Klimakatastrophe abwenden will? Was gewöhnlich in Tschechien passiert, nehmen in Deutschland nur wenige zur Kenntnis. Dabei könnte man von der hiesigen Klimabewegung einiges lernen.

Ein paar Tage später. Regen tropft gegen die Fenster an diesem Vormittag. In Springorums kleinem Bioladen und Café backen Croissants auf, während er einem älteren Gast am Tisch den Latté Macchiato eingießt – »Performance« nennt er das. Der studierte Hydrogeologe ist Ende vierzig und sieht sich als Vollzeitaktivist. Seit kurzem betreibt er mithilfe seiner Kinder auch diesen Laden.

Er setzt sich zu mir und beginnt zu erzählen: »Ein Freund schickte mir damals einen Artikel über Extinction Rebellion (XR), als die mit ihren Aktionen in England anfingen. Am 17. November 2018 war das, das weiß ich noch genau. Ich habe das gesehen und wusste sofort: Da muss ich dabei sein.« Seitdem nahm er an vielen Aktionen in England und Deutschland teil und gründete eine Gruppe in Tschechien.

Damals war er noch Besitzer einer kleinen Firma für Energieeffizienzsysteme, sein Hauptkunde war Škoda. Über diese Verbindung landete er in der Kohlekommission der tschechischen Industrie- und Handelskammer. »Ich habe nie einen Hehl aus meinem Aktivismus gemacht, die wussten das«, erzählt er. »Als ich aber fragte, ob wir nicht nochmal die wissenschaftliche Datenbasis anschauen wollen, ob ein Kohleausstieg 2035 nicht schon viel zu spät ist – da wurde ich vom Vorsitzenden brutal vorgeführt.« In der Folge entscheidet er sich, seine Firma an einen Mitarbeiter zu verkaufen: In seine Konflikte habe er niemanden mit hineinziehen wollen, sagt er.

Beim Kampf gegen die Braunkohle in Tschechien war er auch dabei, bei den Blockaden von Kraftwerken und Tagebauen. Federführend bei den Protesten dort ist vor allem die Gruppe Limity jsme my (Wir sind die Grenze), die sich in Anlehnung an die deutsche Gruppe Ende Gelände gründete – alles aber ungefähr zehnmal kleiner. »Da klopfen wir uns dann auf die Schultern: ›Toll, wir haben wieder was blockiert!‹ Aber das ist doch Quatsch!«, gibt er zu bedenken. »Das können die Leute und mit ihnen die Politiker und Unternehmer einfach ignorieren: ›Ach, wieder ein paar Spinner.‹ Die Politisierung der Kämpfe in den Dörfern ist krachend gescheitert«, lautet sein Fazit. Er schaut mich an und lacht viel. »Mit XR hier haben wir das auch so versucht. Wir haben uns vor die Nationalbank gehangen und was nicht alles. Die monatelangen Vorbereitungen waren aber immer umsonst. Das interessiert niemanden. Vom Klima will hier keiner reden. Also musste was Schlaueres her: Den Konflikt mussten wir zu den Leuten tragen, um nicht mehr ignoriert werden zu können.«

Auch um Opferbereitschaft geht es ihm. »Emotionale Kommunikation«, nennt er das. Das nehme die Leute mit, und das zwinge sie dazu, am Küchentisch über die Aktionen zu reden. Vor einigen Wochen erlangte ein Videoclip große Aufmerksamkeit, auf dem einem Aktivisten der Letzten Generation in Hamburg von einem wütenden Speditionsfahrer in den Bauch getreten wurde. Das Opfer war Arne Springorum. »Sonst hätten das Video nicht eine Million Menschen gesehen«, meint er. Die Tritte seien halb so wild gewesen. »Die Polizeigewalt bei der Räumung hat mich viel härter getroffen.«

Die Ansichten Springorums bringen ihm viel Kritik ein. »Ich bin das schwarze Schaf in der Klimabewegung hier«, sagt er und wirkt damit gar nicht mal unzufrieden. Er wird viel angefeindet. Auslöser dafür war ein Eklat, zu dem es bei einer XR-Aktion vor einem Jahr kam. »›3 Grad für die Ukraine‹ lautete das Motto. «Wir wollten Heizung runterdrehen. Dafür blockierten wir die Straße am Wenzelsplatz, mit Kinderwägen und gefesselten Händen. Es war kurz nachdem die Gräuel von Butscha öffentlich wurden.» Einige warfen der Gruppe daraufhin vor, das Leid der Betroffenen in dem Krieg zu instrumentalisieren. Das hält Springorum aber für Unsinn. «Das ist nicht irgendeine Kampagne, hier geht’s ans Eingemachte», sagt er. Es ist ihm ernst damit.

Seine Kritiker*innen hat das offenbar aber nur wenig beeindruckt. Als dann noch ein Krankenwagen Schwierigkeiten mit dem Stau hatte, wandten sich viele Leute von Extinction Rebellion ab. Das wiederum beeindruckt ihn nicht: «Ihr wollt es anders machen als wir?», sagt er. «Fein, aber respektiert unseren Weg, wie wir euren – wir haben einen Plan!»

Der Letzten Generation wird in der kleinen Prager Aktivist*innenszene mit Respekt begegnet. «Sie haben es wirklich geschafft, aus der üblichen Klima-Bubble hinauszukommen. Da laufen nicht nur junge Student*innen mit», sagt mir ein Aktivist von Limity. Wir sitzen vor dem Hauptbahnhof und rauchen. Genau dort, wo einige Tage zuvor eine lang geplante Demonstration der Gruppe stattfand. Um «multiple Krisen» ging es, allen voran die Energie- und Mietenkrise. Es kamen etwa 200 Menschen: «Die gleichen Gesichter wie immer.»

Eine zentrale Forderung der Aktivist*innen in Prag ist die Einführung von Tempo 30 in der Innenstadt und die Schaffung von mehr Lebensqualität.
Eine zentrale Forderung der Aktivist*innen in Prag ist die Einführung von Tempo 30 in der Innenstadt und die Schaffung von mehr Lebensqualität.

Warum Limity dann aber nicht öffentlich zur Unterstützung der Märsche für das Tempolimit aufrufe, frage ich. «Es gibt Differenzen in unseren Ansätzen. Zum Beispiel funktioniert die Letzte Generation hierarchisch. Ein kleiner Kreis bestimmt, was passiert. Das ist nichts, was wir kultivieren möchten», antwortet er. «Trotzdem sind wir solidarisch, und einige von uns unterstützen die Märsche als Individuen.»

Auf der nächsten Demonstration sehen wir uns nicht. Es scheint die Sonne auf der Hradčanská hinter der Prager Burg. Neben mir üben Reporter der «CNN Prima News» ihren Gang vor die Kamera. Dahinter stehen einige bekannte Gesichter – aber Springorum fehlt. Er ist nach Berlin gereist, zur Aktionswoche der Letzten Generation. Und sein Fehlen merkt man sofort: Der Marsch ist viel ruhiger, fast andächtig. «Man hört wieder Vögel zwitschern in Prag, ist das nicht schön?», freut sich der etwa 50-jährige Ray.

Er ist wie viele hier zum ersten Mal auf einem Protest in Prag. Und ihm geht es wie den meisten um eine lebenswertere Stadt. «Radstreifen gibt es hier höchstens ohne Abgrenzung, aus Mitleid, und bei neuen Projekten geht es immer nur um Autos. Die reiche Vorstadt nimmt hier den Rest der Stadt in Geiselhaft», beschwert sich der IT-Berater Sergio, der sich auf Twitter einen Namen gemacht hat, indem er seinen Weg zur Arbeit mit dem Rad täglich filmt. «Um der Stadt darzulegen, warum hier niemand Rad fährt.»

Die Gruppe Poslední Generace hat Verbindungen zum internationalen A22-Netzwerk für zivile Widerstandsbewegungen, dem auch die Letzte Generation in Deutschland angehört. In einer Erklärung des Netzwerks aus dem letzten Jahr werden dort die ganz großen Töne angeschlagen: Um den letzten Überlebenskampf gehe es, um den Ruf über die Zeitalter hinweg. Daraus wird in Prag Tempo 30 innerorts. «Manchmal fühlt sich das wie Zeitverschwendung an. Zeit, die wir absolut nicht haben. Aber ich sehe keinen anderen Weg», sagt mir der Aktivist Michal Pech, während wir in Warnwesten über eine der Prager Brücken laufen. «Natürlich geht es mir nur ums Klima, aber die wahre Verschwendung wäre es, direkt nach der großen Utopie zu greifen.»

Pech ist Mitorganisator des Marschs und trifft sich morgen mit dem Verkehrssenator und dem Bürgermeister. «Die interessieren sich für 150 Leute?», frage ich erstaunt. «Es ist die Konstanz. Demos sind ja prinzipiell nichts Neues, aber wöchentlich wiederzukommen, das überrascht. Und wir marschieren legal. Das bedeutet, wir können nicht aufgehalten werden und machen immer weiter. Die Autofahrer sind jetzt schon stinksauer, das kannst du dir nicht vorstellen. Die machen Druck bei der Stadt, was gegen uns zu unternehmen. Bestrafen können sie uns aber nicht, also sprechen sie mit uns.»

Etwas später kommen wir ans Ziel. Redebeiträge gibt es kaum, nur einen von den Grünen, die hier nicht im Parlament sitzen. Ich gehe durch die Altstadt nach Hause und frage mich, was der Reiz der Klimabewegung in Prag ist. Es sind doch nur 150 Leute in Warnwesten. Aber die wenigen Menschen haben einen Nerv getroffen. Die ganze Stadt redet über sie; selbst der Verkehrssenator sah sich genötigt, sich zur Verkehrsberuhigung zu bekennen. Und das in einer Gesellschaft, in der Klimaaktivist*innen wohl kritischer angesehen werden als in Bayern.

Und sie sind erstaunlich undogmatisch: Nicht übers Klima reden? Wenn’s hilft. Tempo 30 statt Überlebenskampf? Wenn sie da einen Sieg erringen können. Laufdemo statt Spektakel? Na klar! In dieser Anpassungsfähigkeit zeigt sich: Die meinen das wirklich ernst. Die wollen was verändern und sich nicht selbst beweihräuchern.

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