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Europas Gewerkschaftsbund: Zwischen Bewegung und Institutionen

Der Europäische Gewerkschaftsbund will sich erneuern und jünger werden

  • Moritz Aschemeyer
  • Lesedauer: 4 Min.

Steigende Lebenshaltungskosten, geopolitische Polarisierung, der Einzug von künstlicher Intelligenz in die Arbeitswelt, Rechtsruck, Angriffe auf das Streikrecht – die Liste der Themen, mit denen sich Gewerkschaften aktuell konfrontiert sehen, ist lang. Laurent Berger, Präsident des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) appellierte in seiner Rede bei der Eröffnung des diesjährigen EGB-Kongresses am Dienstag in Berlin an die Einigkeit: »Wir haben verschiedene Perspektiven. Aber wir alle sehen uns geeint im Engagement für die Beschäftigten«, sagte der französische Gewerkschafter. Über 600 Delegierte aus 41 Ländern kommen laut Angaben des Veranstalters bis Freitag zusammen, um über die zukünftige Ausrichtung der europäischen Gewerkschaftsbewegung zu debattieren.

Thematisch geht es auf dem alle vier Jahre tagenden Kongress des Gewerkschaftsbundes um die sozial-ökologische Transformation, Digitalisierung, die Stärkung von Tarifbindung und Gewerkschaften sowie um die internationale Solidarität – dieses Jahr besonders geprägt von den Eindrücken des Ukrainekrieges. Erstmals waren beim diesjährigen Kongress auch Delegationen ukrainischer Gewerkschaften vertreten.

Weder die ukrainischen Gewerkschafter noch Laurent Berger erwähnten in ihren Reden die Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte in der Ukraine. Stattdessen lobte man die internationale Solidarität mit dem Land. Berger hob neben dieser noch die im März vom EU-Parlament verabschiedete Transparenzrichtlinie zur Entlohnung von Männern und Frauen sowie die Mindestlohnrichtlinie als Erfolge des EGB hervor. Die Richtlinie enthält einen Rahmen für nationale Mindestlohnfestsetzung und fordert von Staaten mit einer Tarifbindung von unter 80 Prozent auf, einen Aktionsplan zur Steigerung der Tarifbindung zu erstellen.

Die Generalsekretärin des EGB, Esther Lynch, würdigte die gemeinsame Arbeit während der Coronakrise. Der EGB hatte sich damals unter anderem für EU-weite Kurzarbeitergelder im Rahmen des SURE-Programms eingesetzt und über die Auswirkungen von Covid-19 auf Arbeitsmärkte und Beschäftigte informiert.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verwies in einem Grußwort auf den Beitrag der Gewerkschaft zur europäischen Einheit. Auch betonte er, dass es aktuell »starke Sozialpartner mehr denn je« brauche. Wolle man Arbeit, Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sichern, sei ein »Europa-Tempo« geboten. Dieses solle die technologischen Entwicklungen vorantreiben und Europa zum Vorreiter »dieser neuen industriellen Revolution machen«. DGB-Chefin Yasmin Fahimi schlug in eine ähnliche Kerbe. Sie forderte unter anderem eine europäische Industriepolitik als Antwort auf die USA und China.

Der EGB wurde im Jahr 1973 gegründet und feiert dieses Jahr sein 50. Jubiläum. Der EGB vertritt nach eigenen Angaben über 45 Millionen Beschäftigte aus 41 europäischen Ländern. 93 Gewerkschaftsverbände und zehn europäische Dachverbände sind in dem Verband organisiert. Ebenso wie nationale Gewerkschaften befindet sich der EGB in einer ambivalenten Rolle. So muss der Verband zwischen verschiedenen nationalen Interessen vermitteln und gleichzeitig die Spannung zwischen den sich widerstreitenden Ansprüchen bearbeiten, solidarische Gewerkschaftsbewegung und ins Institutionengeflecht der EU eingebundener Akteur zu sein.

Ein zentrales Problem des EGB ist der fehlende Nachwuchs und die sinkenden Mitgliedszahlen ihrer Einzelgewerkschaften, wenngleich sich die Organisationsmacht und Tarifabdeckung zwischen den Ländern stark unterscheiden. So waren laut Zahlen der OECD im Jahr 2019 in skandinavischen Ländern wie Dänemark oder Schweden noch rund zwei Drittel der Beschäftigten Mitglied in einer Gewerkschaft, in Frankreich oder den Ländern des Baltikums lagen die Werte deutlich unter zehn Prozent. In Italien, Österreich oder Belgien waren beinahe sämtliche Arbeitsverhältnisse tarifvertraglich geregelt, wohingegen in Litauen nur 7,9 Prozent der Arbeitnehmer*innen von einem Tarifvertrag profitierten. Zudem stehen die noch schlagkräftigen Gewerkschaften sowie grundlegende Rechte unter Druck, wenn für einen Ausgleich für die Inflation gestreikt wird. So steht etwa Großbritannien kurz vor der Verabschiedung eines Gesetzes, welches das Streikrecht in kritischen Sektoren einschränkt.

Womöglich stehen aufgrund dieser Herausforderungen mit der Stärkung des EGB und der Erneuerung der Einzelgewerkschaften gleich zwei Schwerpunkte zur Handlungsmacht im Aktionsprogramm. Ein erster Schritt mit dem Ziel, die Attraktivität des EGB bei jungen Beschäftigten zu steigern, wurde bereits am Dienstag unternommen. Mit überwiegender Mehrheit wurde eine Jugendquote von 25 Prozent für die Delegationen des Kongresses beschlossen. Für Freitag ist die finale Abstimmung über das »Berliner Manifest« und den vollständigen Aktionsplan für die nächsten vier Jahre angesetzt. Ob mit den Ergebnissen des Kongresses eine Revitalisierung der Gewerkschaftsbewegung erreicht werden kann, wird sich zeigen.

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