Kissinger: Wie ein politischer Mephisto

Der weltberühmte Diplomat Henry Kissinger wird 100

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Henry Kissinger ist ein Musterbeispiel dafür, dass erlittenes Unrecht nicht notwendig das eigene Wirken lenkt. Damit ist der vielleicht berühmteste lebende Deutsch-Amerikaner, der an diesem Samstag hundert wird, natürlich nicht allein. Doch mit seiner Spannweite vom Visionär einer kriegsbefreiten Welt bis zum Kriegsverbrecher war er sehr eindrucksvoll. »Mit Sicherheit ist kein Staatsmann der Moderne und ganz gewiss kein amerikanischer Außenminister so verehrt und dann so geschmäht worden wie Henry Kissinger«, schreibt Niall Ferguson in seiner Biografie über den früheren amerikanischen Sicherheitsberater und Außenminister, der wie ein politischer Mephisto wirkte.

Er wurde am 27. Mai 1923 in Fürth als Heinz Alfred Kissinger in einer jüdischen Familie geboren. Im Sommer 1938, sein Vater Louis hatte längst seine Stelle als Lehrer verloren, verließ die Familie Franken und reiste nach New York. Viele ihrer Angehörigen, die die Flucht vor den Nazis in die Freiheit nicht mehr schafften, starben in Konzentrationslagern.

Bei seiner Ausreise war Kissinger orthodoxer Jude. Doch bald schon bezeichnete er sich nur noch als Jude in ethnischer Hinsicht. Zuvorderst habe ihn nicht das Grauen des Holocaust die Erkenntnis der Grenzen menschlicher Einsicht gelehrt, sondern seine eigene Teilnahme am Krieg, sagte er. 1944 kam er – ähnlich wie Stefan Heym – als GI wieder nach Deutschland. Seinen Eltern schrieb er damals: »Jetzt bin ich also dorthin zurückgekehrt, wo ich hinwollte. Ich denke an die Grausamkeit und Barbarei, die diese Leute dort draußen in den Ruinen zeigten, als sie obenauf waren. Und dann empfinde ich Stolz und Glück, weil ich als freier amerikanischer Soldat hierherkommen kann.« Kissinger half bei der Enttarnung einer Gestapo-Schläfer-Zelle und veröffentlichte unter dem Titel »Der ewige Jude« einen ergreifenden Artikel zur Befreiung des KZ Hannover-Ahlem. Er hatte sie selbst miterlebt.

An der Harvard-Universität schrieb er mit 388 Seiten über »Die Bedeutung der Geschichte« die bis dahin längste dort eingereichte Diplomarbeit. Gleichen Orts folgte 1954 seine Dissertation, erneut über das Gewicht der Geschichte. In jenen hitzigen Jahren des Kalten Krieges entwickelte der kommende Politiker Strategien einer harten, gewaltbereiten Realpolitik, aber auch zur Ost-West-Entspannung.

Nach seiner Wahl 1968 ernannte US-Präsident Richard Nixon Kissinger zum Nationalen Sicherheitsberater. Maßgebendes Motiv: Kissingers intellektuelle Vietnam-Expertise und seine Vorschläge zu verbesserten Entscheidungsprozessen in Washington. Das verwunderte nicht: Dem machtbesessenen Nixon gefiel die Auffassung des Machtverfechters Kissinger, maximale Macht in der Hand des Präsidenten zu bündeln. Bis Ende 1975 behielt er die Funktion. Er gilt als einer der prägendsten Staatsmänner der Nachkriegszeit und bis heute als der mächtigste Sicherheitsberater, den es je im Weißen Haus gab. Von 1973 bis 1977 war er zudem Außenminister, der erste nicht in den USA geborene in diesem Amt.

Kissingers politische Arbeit machte ihn zu einem der widersprüchlichsten Akteure des 20. Jahrhunderts. Ein Mann von hohem Intellekt, Wissensdurst und enormer Produktivität, der sich im Zynismus wie der Fisch im Wasser bewegte. Im Watergate-Skandal ist folgende Äußerung belegt: »Das Illegale erledigen wir sofort, das Verfassungswidrige dauert etwas länger«. Journalisten wie Seymour Hersh bezeichneten ihn als Kriegsverbrecher wegen seines Vorgehens in Kambodscha, Laos, Vietnam und Bangladesch, gegen die Kurden, in Chile, Argentinien und Uruguay. Kissinger räumte internationaler Stabilität unter US-Führung den Vorrang vor Demokratie und Menschenrechten ein. Der Historiker Greg Grandin sah in ihm geradezu einen Meister der Beteuerung, dass die Politik der USA und die Gewalt und Unordnung der Welt nichts miteinander zu tun hätten. »Kambodscha? ›Es war Hanoi‹, schreibt Kissinger und verweist auf die Nordvietnamesen, um seine vier Jahre dauernden Luftangriffe auf das neutrale Land zu rechtfertigen. Chile? Die Demokratie in Chile, so Kissinger in Verteidigung seines Putschversuchs gegen Salvador Allende, ›ist nicht durch uns, sondern durch den verfassungsmäßig gewählten Präsidenten destabilisiert worden‹.«

An die Vorstellung seines Schlüsselwerks »Die Vernunft der Nationen« in Berlin in den 90er Jahren erinnere ich mich nicht so sehr wegen irgendeines großartigen Gedankens des Autors, sondern hauptsächlich wegen seiner Buddha-Aura, der kellertiefen Stimme und der Mischung aus Großmut, Hochmut und Melancholie, die ihn umgab. Grandin erwähnt seinen »trockenen Humor und seine Vorliebe für Intrigen, gutes Essen und Frauen mit hohen Wangenknochen«, dass er »brillant und rasch aufbrausend«, aber auch verletzlich war.

Zu Nixon hatte er ein bizarres Verhältnis. Er, der von ihm »Judenjunge« genannt wurde, sagte ihm unüberbietbare Schmeicheleien ins Gesicht. War er außerhalb des Oval Office, hieß er Nixon einen »Hohlkopf«, »einen Besoffenen« oder einfach »den Verrückten«.

Henry Kissinger hatte ein überaus wechselvolles Leben, in dem er hochbetagt Präsident Trumps Schwiegersohn Jared Kushner beriet und sich nach Entfesselung von Moskaus Eroberungskrieg gegen die Ukraine nochmals zum Großdiplomaten aufschwang. So warnte er kurz vor seinem Geburtstag »vor einer allzu zögerlichen Haltung« gegenüber der Aufnahme der Ukraine in die Nato. Dem britischen »Economist« sagte er, die Position der Europäer, die Ukraine wegen des zu großen Kriegsrisikos vorläufig nicht in der Nato haben zu wollen, sie aber mit modernen Waffen auszurüsten, sei »wahnsinnig gefährlich«: »Wir sollten den Krieg nicht auf die falsche Weise beenden«, argumentierte er. Die Ukraine müsse nach dem Krieg von Europa geschützt bleiben und dürfe nicht zu einem einsamen, auf sich allein gestellten Staat werden.

Kissinger hält zudem ein Kriegsende für denkbar, in dem Russland die Krim überlassen wird. »Für die Sicherheit Europas ist es besser, die Ukraine in der Nato zu haben. Dort kann sie keine nationalen Entscheidungen über territoriale Ansprüche treffen«, so Kissinger weiter. Aber auch Russland würde profitieren. »Ich würde Putin sagen, dass auch er sicherer ist, wenn die Ukraine in der Nato ist.« Selbstredend müssten die EU und die USA die Ukraine als Opfer der russischen Aggression weiter militärisch unterstützen, bis in puncto Frontverlauf der Status quo ante erreicht sei.

Henry Kissingers politischer Stern ging an der Seite Richard Nixons, einem der intelligentesten und zynischsten US-Präsidenten, auf und blieb seitdem immer gut sichtbar. Die Widersprüchlichkeit seiner Karriere äußerte sich vielleicht nirgends grotesker als in dem Friedensnobelpreis, den er 1973 für die Beendigung eines Indochina-Krieges erhielt, zu dessen Entstehung, Eskalation und Verlängerung er lange maßgeblich beigetragen hatte.

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