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»Trenque Lauquen« im Kino: Magie der Leerstelle

Das argentinische Drama »Trenque Lauquen« von Laura Citarella ist ein verrätseltes Epos über eine junge Frau, die verschwindet

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Eine Suchende, keine Verkünderin: Laura Paredes spielt die Hauptfigur Laura, eine junge Biologin aus Buenos Aires, die wegen eines Forschungsauftrags nach Trenque Lauquen reist.
Eine Suchende, keine Verkünderin: Laura Paredes spielt die Hauptfigur Laura, eine junge Biologin aus Buenos Aires, die wegen eines Forschungsauftrags nach Trenque Lauquen reist.

Wer es eilig hat, ist hier im falschen Film. Denn dieses verrätselte Epos über eine junge Frau nimmt sich Zeit: viereinhalb Stunden in zwei Teilen – und am Ende ist man so klug wie am Anfang. Ist das unbefriedigend? Im Gegenteil. Im Leben gewinnt man ja auch nur Einsichten um den Preis des Verlustes bisheriger Gewissheiten.

Das filmische Labyrinth, in das uns die Regisseurin Laura Citarella mit ihrer Hauptdarstellerin Laura Paredes führt, entfaltet einen starken Sog, der bis zum Schluss anhält. Ein Traum, unterbrochen immer wieder von Wachszenen, ständigen Wechseln der Zeit- und Realitätsebenen – und das immer mit einem kraftvollen Atem und voller Lust erzählt. Ein Film, der sich allein im Sehen offenbart, von einer verborgen bleibenden Kraft zusammengehalten. Was ist da schon die triviale Inhaltsangabe!

Tragen wir die aussprechbaren Partikel dieses erstaunlichen Ganzen dennoch zusammen. Nicht nur die Regisseurin und die Hauptdarstellerin heißen mit Vornamen Laura, auch die junge Biologin aus Buenos Aires, um die der Film kreist. Ein Forschungsauftrag hat sie nach Trenque Lauquen geführt, eine triste argentinische Provinzstadt. Sie ist auf der Suche nach einer »nichtklassifizierbaren Spezies« in der Botanik. Es geht vielleicht um Orchideen, vielleicht auch um etwas anderes.

Dieser überaus lange Film, der einem riesigen Puzzle gleicht, setzt mit Lauras Verschwinden ein. Ist sie das Opfer eines Verbrechens geworden, hat man sie entführt? Offenbar nicht. Alles deutet auf ein Fortgehen aus freiem Entschluss hin. Doch weshalb und wohin? Zwei Männer, die sie lieben, folgen ihren Spuren, aber verlieren sie wieder. Immer wieder setzen neue Kapitel abrupt Schlusspunkte unter die vorherigen, um dann auf andere Weise wieder anzufangen von Laura zu erzählen. Das hat etwas von Andrei Tarkowskis Art, Filme zu machen, in der die Bildlogik immer im Zentrum stand.

Genauso dringen die drei Lauras vor und hinter der Kamera hier in ein Geheimnis ein, ohne es letztlich zu entdecken, was das gleiche wäre, wie es zu zerstören. Wer sagt, so einen labyrinthischen Film ohne eine klare Handlung, ohne eindeutige Aussagen und ohne einen bestimmbaren Anfang und einen ebensolchen Schluss, könne er nicht verstehen, der liest auch keine Bücher von Fernando Pessoa wie »Das Buch der Unruhe« oder die »Aufzeichnungen des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares«. Denn deren fragmentarischen Logik des Aufblitzens von Worten und Zeichen folgt auch »Trenque Lauquen«.

Laura, die verschwundene junge Biologin, hatte eine Sendung im Radio über Frauen in der Wissenschaft. Oft waren sie unbekannt geblieben oder schnell vergessen worden. Sie recherchiert in der Bibliothek, liest ihre Biografien. Zuletzt war sie auf Alexandra Kollontai und ihre »Autobiografie einer sexuell emanzipierten Kommunistin« gestoßen. Die Volkskommissarin wurde später sowjetische Diplomatin. Sie war die einzige Frau im Umfeld Stalins, und während andere Revolutionäre der ersten Stunde verhaftet und ermordet wurden, blieb sie wundersamer Weise verschont. Ihr Credo beeindruckt Laura: In der Liebe werde die Frau zur Sklavin des Mannes, darum dürfe sie sich nicht an ihn binden.

Ist das ein Fingerzeig auf Lauras Verschwinden, schließlich werben zwei Männer um sie? Die fragen sich inzwischen, ob sie vielleicht verrückt geworden sei. So kurz vor der Ehe stehend und vor der Berufung auf einen biologischen Lehrstuhl ist sie plötzlich unauffindbar? Sie will offenbar ihren Weg allein gehen und sei es der ins völlige gesellschaftliche Abseits. Ihr Zimmer, das sie in Trenque Lauquen zuletzt bewohnte, hat sie kontrolliert verlassen, gab einem Jungen den Schlüssel zur Besorgung. Das klingt nicht verrückt, aber wonach dann?

Es kommt etwas Obsessives hinzu, ein mysteriöser Briefwechsel, den sie in der Bibliothek entdeckt hat. Liebesbriefe in Büchern versteckt – aber ihr Adressat ist offenbar verschwunden. Sie beginnt zu recherchieren, in unbekanntes Leben einzutauchen, in diesem fortzuleben – etwas, das jeder Biograf als Versuchung kennt. Wie nah kann ich jemandem kommen, ohne mich aufzugeben? Sie findet heraus, an wen die Briefe gerichtet waren, eine Vertretungslehrerin der örtlichen Schule im Jahre 1962. Sie hieß Carmen Zuna. Doch niemand kann sich an sie erinnern. Sie ging weg, als sie schwanger wurde, aber dieses Weggehen war offenbar keine Flucht, sondern ein bewusster Akt der Selbstbehauptung. Manchmal ist es offenbar wichtiger, irgendwo wegzugehen als irgendwo anzukommen.

Der Vater des Kindes kam aus einer immer noch im Ort ansässigen italienischen Familie und kehrte schließlich allein nach Italien zurück. Wovon sprechen die Zeugnisse? Warum erzählt man uns das so ausführlich? Die detektivische Spurensuche, die obsessiv wird, hat Laura offenbar verändert. Vielleicht so stark, dass sie nun einen eben solchen Weg wie die von ihr erforschte Carmen Zuna ging. Darauf zielt der Film nicht zuletzt: Was ist es, das uns Antrieb im Leben gibt und zu bestimmten Entscheidungen führt?

Hier geht es um Biografien von Frauen in der Geschichte, um deren Überlieferung, um Bücher und Briefe. Laura, so scheint es, entscheidet sich, in eine imaginäre Gegenwelt einzutreten, ohne zu fragen, ob und wie sie aus dieser wieder herauskommen kann. Laura Paredes vermeidet in ihrem Spiel jeden Anflug von Sendungsbewusstsein: Ihre Laura ist ohne Fanatismus, eine Suchende, keine Verkünderin. Ihrer Sinnlichkeit will sie sich nicht überlassen, sie kennt an Beispielen aus der Geschichte, was dann aus ambitionierten jungen Frauen wurde. Der Rückzug auf sich selbst ist darum ein Akt der Stärke, keine Kapitulation vor einer Realität, deren Maßstäben sie sich nun rigoros entzieht.

Der zweite Teil des Films beginnt mit einem Blick auf den desolaten Zustand von Trenque Lauquen. Überall verrottender Beton. »Wie ein gelandetes Ufo«, sagt jemand, angesichts eines grauen pilzartigen Turms am Straßenrand. Wir hören Sätze wie diesen: »Städte, die zerfallen, Politiker, die nicht regieren.« Das ist die erste handfeste Aussage des Films. Und schon blicken wir durch die Kamera über Industriebrachen und Autobahnen hin zu noch unberührten Seeufern. Das hat etwas Magisches.

Am Ende sehen wir Laura in der Morgendämmerung am Ufer eines Sees liegen. Ein langer Kameraschwenk von ihr fort und wieder zu ihr zurück: Der Platz ist plötzlich leer. Ist sie nun der Welt gänzlich abhanden gekommen oder gerade in diesem Moment aufgebrochen, um kraftvoll zurückzukehren?

Dieser besondere Film, in dem ständig eine unbestimmte Unruhe vibriert, hat etwas von einer fortwährend durch äußeren Einspruch unterbrochenen Meditation. Er lebt von der Magie der Leerstelle, unserem Nichtwissen. Es gibt keine Rückkehr, nur einen Neuanfang, der hinter uns zurückgeht. Das ist ebenso anstrengend wie schön.

»Trenque Lauquen«: Argentinien/Deutschland 2022. Regie: Laura Citarella, Drehbuch: Laura Citarella, Laura Paredes. Mit: Laura Paredes, Ezequiel Pierri, Rafael Spregelburd, Elisa Carricajo. Teil 1: 128 Min.,Teil 2: 132 Min. Start: 1. Juni.

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