Zeitansage meines Herzens

NAZIM HIKMET: Liebesgedichte an seine vier Frauen

  • Hanno Harnisch
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 3. Juni 1963 hörte in Moskau das Herz von Nazim Hikmet auf zu schlagen. In der Tasche seines Jackets fand man das Foto seiner letzten großen Liebe. Auf der Rückseite sein allerletztes Gedicht: An Vera – Komm doch sagte sie/ Bleib doch da sagte sie/ Lach doch sagte sie/ Stirb doch sagte sie/ Ich kam/ Ich blieb/ Ich lachte/ Ich starb. In diesen acht Zeilen ist das ganze Leben von Nazim Hikmet festgehalten.

Und wie schön klingt das erst, wenn man diese so einfachen Worte dann auch noch in der Heimatsprache des Dichters lesen kann. Das ist möglich, denn die Liebesgedichte – die meisten erstmals ins Deutsche übertragen von Helga Dagyeli-Bohne und Yildirim Dagyeli – im Buch sind zweisprachig, ein besonderer Schatz bei Gedichtbänden. Und so liest es sich: Vera'ya – Gelsene dedi bana/ Kalsana ded bana/ Gülsene dedi bana/ Ölsene dedi bana/ Geldim/ Kaldim/ Güldüm/ Öldüm.

Ich habe mir das Gedicht im Original abgeschrieben und will es einem türkischen Freund vorlesen, für den Nazim Hikmet der größte Dichter des vergangenen Jahrhunderts ist. Dem ist nicht zu widersprechen.

Als hätte er gewusst, dass er in seinem Leben vier Frauen lieben wird, schrieb Hikmet bereits mit 19 Jahren: Ich habe vier Geliebte. Aus seinen frühen Jahren, in denen er Majakowski kennen lernte, das erste Mal nach Moskau reist, ist es das einzige Liebesgedicht.

1925 wird der junge Kommunist zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Er konnte fliehen. 1938 wurden bei Marinekadetten, die einer Rebellion angeklagt waren, Gedichte von Nazim Hikmet gefunden. Der bekennende und mittlerweile bekannte Kommunist wurde zu 28 Jahren Haft verurteilt.

Den Zweiten Weltkrieg verbrachte Nazim Hikmet hinter Gittern. Er verfasste dort nicht nur sein »Epos vom Befreiungskrieg« sondern auch Gedichte für Piraye, geschrieben zwischen 21-22 Uhr. Von September bis Dezember 1945 fast jeden Abend ein Gedicht. Europa war befreit vom Faschismus, Hikmet verfasst Liebeslyrik!

Am 24. September schrieb er das Gedicht, dessen erste Zeilen diesem Band den Namen gab: Das schönste Meer ist das noch nicht befahrene/ Das schönste Kind ist das noch nicht herangewachsene/ Unsere schönsten Tage sind die noch nicht erlebten/ Und das schönste Wort, das ich dir sagen möchte, ist das noch nicht gesagte.

Die Frau des Kämpfers soll schön sein wie die Fahne des Aufstands. Er sorgt sich um die Welt wie auch um seine Liebste. Und die wird bald schon Münevver heißen. Dann Galina und ganz zuletzt – das wissen wir schon – Vera. Jedes Gedicht eine Liebeserklärung. Trauer und Hoffnung, Liebe und Zorn, Menschheit und Geliebte, Kerker und Freiheit, Willkommen und Abschied. Erst 1950 kommt Nazim Hikmet nach einer internationalen Solidaritätskampagne frei.

In einem dichten Nachwort von Mario Pschera kann man die Etappen dieses ungewöhnlichen Lebens noch einmal nachvollziehen. In der Türkei werden die Liebesgedichte von Nazim Hikmet von jungen Leuten in ihren Liebesbriefen gerne zitiert. Seine politischen Texte werden an Häuserwände gesprüht. Die Türkei, die sich wie ein Stutenkopf ins Mittelmeer streckt, hat er genau so geliebt wie seine Frauen. Diese Hölle, dieses Paradies ist unser!

Und ich verdanke diesem Gedichtband, der die zweisprachigen Hikmet-Ausgaben des Dagyely Verlags abrundet, einen ganz neuen Blick auf den Dichter der Zeilen: Wie ein Baum, einzeln und frei/und brüderlich wie ein Wald, die Hannes Wader nach Deutschland brachte.

Nazim Hikmet: Das schönste Meer ist das noch nicht befahrene. Gedichte türkisch/deutsch. Dagyeli Verlag. 248 S., brosch., 18,50 EUR.

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