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17. Juni 1953: Im Stich gelassen

Das Verhältnis zwischen der evangelischen Kirche und der DDR-Regierung hatte sich erst unmittelbar vor dem 17. Juni 1953 entspannt. Wohl deshalb schwieg man zum Aufstand

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 8 Min.

Warum haben eigentlich die Bischöfe in der DDR am 17. Juni 1953 geschwiegen? Die übergroße Mehrheit der Bürger dieses Landes war doch Mitglied der evangelischen Kirche, also auch die Mehrheit der Menschen auf der Straße. In den Quellen findet sich kein Wort der Solidarität mit den Demonstranten, kein Kirchenasyl für die verfolgten Streikführer. Im Gegenteil: Der Thüringer Bischof Moritz Mitzenheim, bald schon mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnet, sprach gegenüber dem stellvertretenden des Bezirkes Suhl sogar von einer »faschistischen Provokation«. Dabei sollte sein eigener Bruder, Edgar Mitzenheim, für seine Beteiligung am Protest eine sechsjährige Haftstrafe bekommen; der Pfarrer der 500-Seelen-Gemeinde Eckolstädt war unter seinen Amtsbrüdern eine der wenigen Ausnahmen.

Und genau genommen war die Kirche in Thüringen selbst die »faschistische Provokation«. Erinnert sei nur an Walter Grundmann, ehemals akademischer Direktor des Eisenacher Instituts zur »Entjudung« von Kirche und Theologie. 1955 berief ihn Bischof Mitzenheim zum Leiter des Katechetischen Seminars in Eisenach. Der Mann, der von seinem Schreibtisch aus die »religiöse Legitimation zur Vernichtung der Juden geliefert« hatte, so Peter von der Osten-Sacken, emeritierter Theologieprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, und »die Kirche zum Büttel des Staates« gemacht hatte, war einer der führenden DDR-Theologen. Dieser Mann wurde 1975, im Jahr vor seinem Tod, zwecks höherer Pension sogar zum Kirchenrat ernannt. – Doch zurück zum Thema: Warum schwiegen am 17. Juni 1953 die Kirchenoberen? Die katholische Minderheitenkirche soll hier nicht interessieren; anders als in Polen verhielt sich der Katholizismus in der DDR grundsätzlich politisch abstinent. Was aber war mit den führenden Protestanten, die sich an jenem Tag ganz offensichtlich dem Protest verweigerten?

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Kirche und Menschrechte

Die Sprachlosigkeit der Bischöfe hatte Tradition. Wozu hatte die Kirche in der Vergangenheit nicht alles geschwiegen: zu Vernichtungskrieg und Völkermord. Das Ende der Weimarer Demokratie und die damit einhergehende Verfolgung Andersdenkender und Anderslebender war von den allermeisten evangelischen Pfarrern begrüßt worden. Am Tag von Potsdam hatte Generalsuperintendent Otto Dibelius in der Festpredigt verkündet: »Wir wollen wieder sein, wozu uns Gott geschaffen hat. Wir wollen wieder Deutsche sein! (...) Durch Gottes Gnade ein deutsches Volk!«

Eben dieser Dibelius trug seit Kriegsende, durch einen »souveränen Akt der Selbsternennung«, so der Historiker Manfred Gailus, den Titel »Bischof von Berlin« resp. der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg; seit 1949 hatte er zudem das Amt des EKD-Ratsvorsitzenden inne. Und als hätte es in der Nachkriegszeit keine anderen Probleme gegeben, führte der Bischof den Kampf gegen den Atheismus. In einer Rede, gehalten am 16. März 1947 im britischen Sektor Berlins, klagte er: »Der große Säkularisierungsprozess ist kaum aufzuhalten.« – Der 17. Juni wäre doch eine gute Gelegenheit gewesen, den gottlosen Kommunisten Einhalt zu gebieten, zumal Dibelius ja tatsächlich in eine Kundgebung im Bezirk Prenzlauer Berg hineingeriet. Von einer Predigt oder Ansprache an die Demonstrierenden ist nichts überliefert. Warum haben Dibelius und die anderen Bischöfe diesen historischen Moment nicht genutzt? Bis zum Herbst 1989 sollte der SED-Apparat nie wieder so schwach sein. Warum hat die Kirche die Streikenden alleingelassen?

Kirche und Gesellschaft 1953

Noch im Vorjahr, im Juli 1952, hatte Walter Ulbricht auf der II. Parteikonferenz den »Aufbau des Sozialismus« verkündet, mit allen Konsequenzen. Davon betroffen waren in erster Linie die privaten Unternehmer wie auch die Handel- und Gewerbetreibenden, die über extrem erhöhte Abgaben gezwungen werden sollten, ihre Selbstständigkeit aufzugeben. Auch die späteren Normerhöhungen sind in diesem Kontext zu sehen. So war denn bei vielen Bürgern in der DDR die letzte selbstständige Handlung die Republikflucht; der Flüchtlingsstrom wuchs unaufhörlich. Während 1951 rund 166 000 Menschen die Republik in Richtung Westen verließen, waren es 1952 sogar 182 000 Flüchtlinge. Das, obwohl das Politbüro in Absprache mit der sowjetischen Besatzungsmacht am 26. Mai 1952 die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR hatte abriegeln lassen. Eine fünf Kilometer breite Sperrzone mit Stacheldraht war geschaffen worden, sodass als einzige offene Fluchtmöglichkeit nur noch Westberlin geblieben war. Doch der Exodus nahm kein Ende. Allein im März 1953 wurden 59 000 Flüchtlinge registriert.

Verteuerung, staatliche Repressalien, Engpässe in der Versorgung und die nicht enden wollende Fluchtwelle vergifteten in dieser Zeit das gesellschaftliche Klima in der DDR-Gesellschaft. Nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 verlor dessen Theorie von der Verschärfung des Klassenkampfes in der sozialistischen Aufbauphase keineswegs an Beachtung: Der Propaganda-Apparat lief auf Hochtouren. Hannah Arendt beschreibt solche Vorgänge als »Emanzipation des Denkens von erfahrener und erfahrbarer Wirklichkeit«. Unterstützt von der SED-kontrollierten Justiz (in den Jahren 1950 bis 1953 wurden in der DDR pro Jahr etwa 11 000 bis 14 000 Menschen nach politischen Paragrafen verurteilt), übertrafen sich Presse und Rundfunk der DDR mit täglich neuen Berichten über Sabotage, Provokateure und andere »feindliche Elemente«. Sämtliche Probleme des Alltags, jede Mangelerscheinung usw. erschienen als Folge der Verschwörung imperialistischer Mächte (eine ähnliche Verschwörungspsychose war auch im anderen Teil Deutschlands zu beobachten, im Adenauer-Staat, freilich unter antikommunistischen Vorzeichen).

SED versus Kirchen

Als Vorposten des Weltimperialismus oder gar Fünfte Kolonne wurden nun die Kirchen verleumdet, insbesondere deren Jugendarbeit. Denn wider Erwarten erfreuten sich die Jungen Gemeinden, als einzige vom Staat geduldete Alternative zur FDJ, eines wachsenden Zulaufs. Auslöser bzw. Vorwand für die ersten bis dato so nicht gekannten Konfrontationen mit dem SED-Staat war das Tragen des Bekenntniszeichens. Die Jugendlichen, die die kleine Weltkugel mit Kreuz am Revers trugen, bekannten sich damit nicht nur zur Jungen Gemeinde, gleichzeitig straften sie auch den Alleinvertretungsanspruch Lügen, den die FDJ für die Jugend der DDR erhob.

Der Jugendverband und mit ihm die »Mutterpartei« fühlten sich nicht nur herausgefordert, sie waren es. Jedoch waren sich die Funktionäre ihrer Sache nicht sicher; ihnen ging es um mehr als um die kirchliche Jugendarbeit und das Anstecken diverser Abzeichen. Nur so erklärt sich die erschreckende Unverhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel: In der »Jungen Welt«, dem FDJ-Zentralorgan, wurde vehement die Existenzberechtigung der Jungen Gemeinde verneint. Als kirchliche Jugendorganisation mit vereinsartigem Charakter wurde sie bezeichnet und wäre somit illegal gewesen. Mit an den Haaren herbeigezogenen Vorwürfen wie Kriegshetze, Kindesentführung und kasernierter Ausbildung brachte das Blatt die Jungen Gemeinden sogar mit westlichen Geheimdiensten in Verbindung. Wobei es bei der Verleumdung nicht bleiben sollte. Unter Federführung Erich Honeckers, des damaligen FDJ-Chefs, wurde mit ganzer Hilfe des SED-Machtapparates der systematische Kampf gegen die evangelische Jugend- und Studentenarbeit eingeleitet. 3000 christliche Schüler und 2000 Studenten wurden relegiert, verloren ihren Schul- bzw. Studienplatz. Etwa siebzig Theologen und Jugendleiter wurden verhaftet, es kam zu Schauprozessen. Einrichtungen der Diakonie wurden beschlagnahmt etc. Bischof Dibelius erhob daraufhin gegenüber dem Generalstaatsanwalt der DDR schwere Anschuldigungen. Mit den Angriffen auf die Junge Gemeinde seien »die in der Deutschen Demokratischen Republik geltenden Gesetze gröblich verletzt worden«. Artikel 6 Absatz 1 der Verfassung der DDR bestimme, dass alle Bürger vor dem Gesetz gleichberechtigt seien. In Artikel 41 werde jedem Bürger die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit zugesichert und die ungestörte Religionsausübung unter den Schutz der Republik gestellt. Mit dem Hinweis, dass die Junge Gemeinde keine Organisation, sondern ein Teil der Gesamtgemeinde und damit der gesamten Kirche sei, forderte Dibelius den Generalstaatsanwalt auf, darauf hinzuwirken, dass dieser Verfassungsbruch unverzüglich eingestellt werde. »Zugleich beantrage ich, gegen die für die dargestellten Presseangriffe Verantwortlichen, insbesondere gegen die Schriftleitung der ›Jungen Welt‹, ein Strafverfahren einzuleiten.« – Diese und ähnliche Anzeigen wurden von der Generalstaatsanwaltschaft zurückgewiesen.

In dieser angespannten Lage schlug die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR am 4. Juni 1953 Ministerpräsident Otto Grotewohl ein offizielles Treffen zwischen führenden Vertretern von Staat und Kirche vor. Und entgegen aller Erwartung ging die DDR-Regierung auf dieses Angebot ein. Das Staat-Kirche-Gespräch auf oberster Ebene sollte am 10. Juni 1953 stattfinden. – Wovon aber weder Bischöfe noch die DDR-Öffentlichkeit wussten: Nur wenige Tage zuvor waren Grotewohl und Ulbricht nach Moskau zitiert worden, wo sie zum Kurswechsel verpflichtet worden waren, u.a. auch in der Kirchenpolitik. Dass die DDR-Regierung kurz darauf die meisten anti-kirchlichen Maßnahmen zurücknahm, war also nicht dem außerordentlichen Verhandlungsgeschick der Kirchenvertreter zu verdanken. Dennoch sah der Rat der EKD darin – kurz vor dem 17. Juni – einen »bedeutsamen Umschwung, der in der Lage der evangelischen Kirchen im Osten unseres Vaterlandes eingetreten ist«. Dieser »Umschwung« im Staat-Kirche-Konflikt war vermutlich der Grund für das Schweigen der DDR-Kirchen während und nach dem 17. Juni.

Resümee

Wie so oft in ihrer Geschichte war die Kirche mit sich selbst beschäftigt. Die erreichten Fortschritte im Verhältnis zum SED-Staat wollte man auf keinen Fall durch eine Parteinahme für die Protestierer gefährden. Reformation, nicht Revolution, ist das Wesen des deutschen Protestantismus. Obwohl man den Kirchen zugutehalten muss, dass sich die Ereignisse binnen zweier Tage schlichtweg überschlugen, die Zeit zur Findung einer eigenständigen, für die ganze Kirche geltenden Position zu kurz war. Die Tatsache, dass die Kirchen von den Ereignissen völlig überrascht wurden, macht noch einmal deutlich, dass es sich bei den bei den Streiks und Demonstrationen des 17. Juni 1953, anders als vom »Neuen Deutschland« damals behauptet, um keinen von langer Hand vorbereiteten »Putschversuch« gehandelt hat, sondern um eine spontane Erhebung.

Die Kirche sollte erst in den Siebzigerjahren, an Mitgliedern sichtlich geschrumpft, zu einem politischen Faktor in der DDR-Gesellschaft werden. Die politischen Strukturen dieses Staates waren nie dafür gedacht, dass in ihnen eines Tages Menschen zusammenkommen, um miteinander kritische Fragen zu diskutieren. Diese Aufgabe fiel in den Achtzigerjahren den evangelischen Kirchen zu; daran sind sie gewachsen, aber auch gescheitert.

Karsten Krampitz ist Historiker, Schriftsteller und Journalist und für das »nd« als freier Mitarbeiter tätig.

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