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17. Juni 1953: Ein abgekartetes Spiel?

Vom Machtkampf im Kreml und Kapriolen in der sowjetischen Deutschland-Politik

  • Siegfried Prokop
  • Lesedauer: 7 Min.

Die Unruhen im Jahr 1953 hatten, wie die Quellen in den Archiven belegen, ihre Ursachen in einer falschen Politik. Die Krise war hausgemacht, verschuldet von der SED und den sowjetischen Besatzungsbehörden. Ausschlaggebend waren jedoch insbesondere auch Veränderungen in der Deutschland-Politik der UdSSR nach den Weichenstellungen mit dem General- und Deutschlandvertrag der ehemaligen Westalliierten im Mai 1952. Der sowjetische Partei- und Staatschef Josef W. Stalin ging davon aus, dass mit dem EVG-Projekt – der bekanntlich im August 1954 am Votum der Französischen Nationalversammlung scheiternden Europäischen Verteidigungsgemeinschaft – endgültige Entscheidungen im Sinne der Westintegration der Bundesrepublik gefallen seien und keine Chance mehr für eine von ihm bis dato keinesfalls als abseitig betrachtete deutsche Wiedervereinigung bestünde. Er rechnete gar mit einer unmittelbar bevorstehenden militärischen Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR.

Die im Gefolge dieser Annahme auf sowjetischen »Vorschlag« hin im November 1952 auf der 10. Plenartagung des ZK der SED beschlossene Aufstockung der Mittel für die Landesverteidigung der DDR um 1,5 Milliarden Mark sollte fatale Konsequenzen zeitigen. Das aufgrund der erhöhten Militärausgaben notwendige, von Finanzminister Willy Rumpf auf jener Tagung begründete »Programm der Sparsamkeit« sah unter anderem höhere Besitz- und Einkommenssteuern, Preiserhöhungen, genannt »Preisregulierung« (wobei Waren des Grundbedarfs ausgespart waren), sowie Einsparungen in der volkseigenen Wirtschaft, die Reduzierung von Sozialausgaben und von Aufwendungen für die Kultur vor. Die DDR marschierte in eine handfeste Existenzkrise.

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Der nach dem Tod Stalins am 5. März 1953 unter seinen Epigonen ausbrechende Machtkampf sollte jedoch die Situation noch einmal gründlich verändern. Pawel S. Sudoplatow, General des sowjetischen Geheimdienstes NKWD, erinnerte sich, vor den Feiern zum 1. Mai 1953 von Lawrentij Berija, Innenminister und NKWD-Chef, den Auftrag erhalten zu haben, die Durchführbarkeit einer eventuellen deutschen Wiedervereinigung zu sondieren. Berija teilte mit, man sei im Kreml der Ansicht, die Schaffung eines neutralen, vereinigten Deutschland unter einer Koalitionsregierung sei der beste Weg, »unsere Position in der Welt zu stärken«. Deutschland solle als ausgleichender Faktor zwischen den amerikanischen und sowjetischen Interessen in Europa wirken. Dies werde zwar einige Konzessionen sowjetischerseits erfordern, nämlich die Demontage der DDR-Regierung unter Walter Ulbricht, ließe sich jedoch bewerkstelligen. Wörtlich führte er gemäß Sudoplatow aus: »Das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik sollte ein autonomes Gebiet im neuen vereinigten Deutschland werden.«

Auch auf westlicher Seite hatte sich die Sicht verändert, waren Entspannungstendenzen erkennbar; in Panmunjeom fanden Waffenstillstandsverhandlungen zur Beendigung des Korea-Krieges statt. Der britische Premierminister Winston Churchill hielt eine Verbesserung der Beziehungen zur UdSSR für wünschenswert und erkannte als erster westlicher Staatsmann sowjetische Sicherheitsinteressen ausdrücklich an. Die deutsche Frage sei in Europa das beherrschende Problem, über das sich eine Konferenz der Großmächte verständigen sollte.

Die neue Führung in Moskau reagierte konstruktiv auf die Churchill-Initiative, Mit der Auflösung der Sowjetischen Kontrollkommission (SKK) und der Einsetzung von Wladimir S. Semjonow als Hoher Kommissar in Deutschland am 27. Mai 1953 stellte die UdSSR strukturelle Kompatibilität zu den westlichen Besatzungsmächten her. Hinzu gesellte sich die Verfügung des Ministerrats der UdSSR vom 2. Juni 1953 »Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik«, in deren Gefolge der SED erneut eine radikale Kurskorrektur verordnet wurde: der sogenannte Neue Kurs.

Darüber hatte es innerhalb der KPdSU-Spitze allerdings scharfe Meinungsverschiedenheiten gegeben. Auf dem Juli-Plenum des KPdSU-Präsidiums, einen Monat nach der Niederschlagung des Aufruhrs in der DDR, resümierte der neue Mann im Kreml, Nikita S. Chruschtschow, über die Gespräche mit der Anfang Juni nach Moskau zitierten SED-Spitze: »Die Führer der DDR hatten Fehler begangen, sie hätten berichtigt, nicht aber geringschätzig behandelt werden dürfen. Als wir diese Frage erörterten, schrie Berija den Genossen Ulbricht und andere deutsche Genossen derart an, dass es schon peinlich war.«

Schon früh kam die These auf, die Juni-Unruhen in der DDR seien auf sowjetische Initiative hin provoziert worden. Am 18. Juni telegrafierte der britische Botschafter in Paris, Oliver Harvey, nach London, dass die Sowjets anfangs die Demonstrationen und Streiks geduldet, wenn nicht gar unterstützt hätten. Er verwies dabei auf Berichte des französischen Hochkommissars, André François-Poncet. Die sowjetischen Besatzungsbehörden hätten jedoch nicht damit gerechnet, dass sich hieraus Gewalt in größeren Dimensionen entwickeln könnte. Ihr Kalkül habe darin bestanden, dass es durch den öffentlich bekundeten Unwillen über die wirtschaftlichen Maßnahmen der DDR-Regierung möglich sein würde, in Moskau in Ungnade gefallene Spitzenfunktionäre der SED ihrer Ämter zu entheben.

Auch der Leiter des bundesdeutschen Amtes für Verfassungsschutz, Otto John, hielt die ursprüngliche Demonstration vom 16. Juni in Berlin für ein abgekartetes Spiel der sowjetischen Behörden. Auf einem Treffen der westlichen Hohen Kommissare sprach François-Poncet erneut davon, dass die Streiks und Demonstrationen am 16. Juni im Einverständnis mit den Sowjets stattgefunden hätten. Er meinte sogar, dass DDR-Behörden die Demonstration der Bauarbeiter auf der Stalinallee organisiert wie auch genehmigt hätten. Als Beleg hierfür erschien französischen Diplomaten, dass die diensthabenden Polizisten an jenem Tag keine Waffen trugen.

Bemerkenswert ist, dass es zwischen dem Sowjetkommissar Semjonow und Hermann Kastner, Vorsitzender des Förderungsausschusses für die Deutsche Intelligenz und Agent der »Organisation Gehlen«, aus der sich später der BND rekrutierte, im Juni 1953 zu sechs Begegnungen kam, in denen über eine neue Regierung und Politik der DDR beraten wurde. Im Kalkül von Semjonow war Kastner als neuer DDR-Ministerpräsident vorgesehen.

Doch den Machtkampf in Moskau gewann nicht Berija, sondern Chruschtschow. Am 26. Juni wurde der scheinbar allmächtige Geheimdienstchef verhaftet; im Dezember des Jahres sollte er hingerichtet werden. Das Präsidium der KPdSU hatte sich für die weitere Existenz der DDR entschieden. War dies das Ziel der eventuell doch bewusst provozierten Streiks und Demonstrationen? Die Frage lässt sich weder einfach bejahen noch verneinen. Der 17. Juni in der DDR bewirkte in Moskau jedenfalls eine neuerliche Änderung in der Deutschland-Politik. Sudoplatow konstatierte nüchtern: »Am 29. Juni 1953 widerrief das Präsidium seine neue DDR-Politik.«

SED-Chef Ulbricht sowie der DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl blieben an der Macht. Ihre Kontrahenten Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur des »Neuen Deutschland«, und Wilhelm Zaisser, erster Minister der DDR-Staatssicherheit, verloren ihre Posten und wurden aus der Partei ausgeschlossen. Kastner blieb, von Semjonow gestützt, vorerst noch in seiner Funktion. Drei Jahre später floh er in den Westen; am 4. September 1957 erlag er in einem Zug nach Pullach, dem Sitz der BND-Zentrale, einem Herzinfarkt. In seinen später verfassten Memoiren erwähnte Semjonow den einstigen Mitverschworenen nicht.

Vom 20. bis 22. August 1953 kam es in Moskau zu Verhandlungen zwischen Vertretern der DDR und der UdSSR mit dem Resultat, dass dem ostdeutschen Staat die restlichen Reparationen und die Nachkriegsstaatsschulden erlassen, die der DDR aufgebürdeten Kosten für die Unterhaltung der Besatzungstruppen gesenkt sowie die letzten 33 Betriebe der Sowjetischen Aktiengesellschaft (von der sowjetischen Besatzungsmacht SMAD nach 1945 gegründete Unternehmen) übergeben wurden. Die DDR erhielt einen Kredit in Höhe von 485 Millionen Rubel und die Zusicherung von Warenlieferungen aus der Sowjetunion. Die diplomatischen Missionen der UdSSR in Berlin und der DDR in Moskau wurden in Botschaften umgewandelt.

Entgegen noch heute zu hörenden Behauptungen kann davon ausgegangen werden, dass es 1953 keinerlei Chance für die Wiederherstellung eines einheitlichen Deutschlands gab. Das lag weniger an Moskau als an Bonn. Bundeskanzler Konrad Adenauer erklärte am 15. Dezember 1955 dem ehemaligen Hohen Kommissar und nunmehrigen britischen Botschafter Ivone Kirkpatrick, warum er dies unter allen Umständen verhindern wollte: »Der entscheidende Grund sei«, so heißt es in dem Dokument, »dass Dr. Adenauer kein Vertrauen in das deutsche Volk habe. Er sei äußerst besorgt, dass sich eine künftige deutsche Regierung, wenn er von der politischen Bühne abgetreten sei, zulasten Deutschlands mit Rußland verständigen könnte. Folglich sei er der Meinung, dass die Integration Westdeutschlands in den Westen wichtiger als die Wiedervereinigung Deutschlands sei.« Adenauer habe zugleich betont, er wünsche nicht, dass seine Ansichten, die er unter vier Augen in solcher Offenheit mitgeteilt habe, jemals in Deutschland bekannt würden, denn dies würde seinen politischen Tod bedeuten. Tatsächlich wurden sie erst 1986, nach Verjährung der archivalischen Sperrfrist, bekannt.

Prof. Dr. Siegfried Prokop lehrte an der Humboldt-Universität zu Berlin; zum Thema findet sich von unserem Autor ein ausführlicherer Aufsatz im nächsten Heft der »Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung«.

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