Wohnungsmarkt in Großbritannien: Eine tickende Schuldenbombe

Die durch steigende Zinsen ausgelöste Hypotheken-Krise in Großbritannien weitet sich aus

  • Peter Stäuber, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Seit Wochen findet man auf vielen britischen Internetseiten sogenannte »Mortgage Calculators«: Eingabemasken, mit denen Nutzer die Kosten ihrer Hypothek bei verschiedenen Zinssätzen berechnen können. Hunderttausende Briten, die dieser Tage mit nervösen Fingern ihre Daten eintippen, sind geschockt: Die Hypothekenzinsen klettern derzeit unerbittlich in die Höhe, viele Eigenheimbesitzer machen sich Sorgen, ihre Wohnung bald nicht mehr leisten zu können. Es ist eine Krise, die sich seit vielen Monaten zusammengebraut hat – und die jetzt zu eskalieren droht. Experten sprechen von einer »tickenden Zeitbombe« für die britische Wirtschaft.

Hintergrund ist die hartnäckig hohe Inflation auf der Insel. Nach seinem Amtsantritt Ende Oktober erhob Premierminister Rishi Sunak die Bekämpfung der allgemeinen Teuerung zur Priorität seiner Regierung. Aber noch immer liegt die Inflation bei 8,7 Prozent, wie das Statistikbüro am Mittwoch vermeldete – weit mehr als Ökonomen vor ein paar Monaten erwartet hatten. Im Versuch, die Inflation zu senken, hat die britische Notenbank den Leitzins sukzessive erhöht. Seit Dezember 2021 hat sie den Zins stetig heraufgesetzt; mit 4,5 Prozent liegt er heute auf dem höchsten Stand seit 15 Jahren. Am Donnerstag wird erwartet, dass die Bank of England die Schraube weiter anzieht und die nächste Erhöhung ankündigt.

Teller und Rand – der Podcast zu internationaler Politik
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

Das hat Konsequenzen für die Wohnungsbesitzer, denn ein höherer Leitzins macht auch Hypotheken teurer. Lange Zeit lag der Zinssatz für Eigenheime bei etwas mehr als einem Prozent – mittlerweile ist er auf rund 6 Prozent angestiegen.

Insgesamt haben etwa ein Drittel der britischen Haushalte ein Darlehen für den Wohnungskauf aufgenommen. Entsprechend werden die Folgen im ganzen Land zu spüren sein. Etwa 1,6 Millionen Briten haben eine Hypothek mit variablem Zinssatz – er steigt automatisch an, wenn der Leitzins in die Höhe geht. Häufiger sind Hypotheken mit einer Laufzeit von zwei bis fünf Jahren: Der Zinssatz ist über diese Zeit fixiert, danach wird er an den geltenden Zinssatz angepasst – oder die Haushalte müssen einen neuen Deal ausmachen, der sich ebenfalls am allgemeinen Zinsniveau orientiert.

Ein Rechenbeispiel: Im September 2021 lag der Zinssatz für eine zweijährige Hypothek bei etwa 1,2 Prozent, was im historischen Vergleich sehr tief ist. Wer damals eine Hypothek von 200 000 Pfund aufnahm, zahlte dafür etwa 770 Pfund pro Monat, inklusive Zins. Bei einem Zins von rund 6 Prozent hingegen sind pro Monat happige 1290 Pfund fällig. Geschätzte 400 000 Haushalte werden zwischen Juli und September eine neue Hypothek aufnehmen müssen – sie werden die höheren Kosten schmerzhaft zu spüren bekommen.

Entsprechend alarmiert sind die Wirtschaftsexperten. Der Volkswirt David Blanchflower, der früher bei der Bank of England gearbeitet hatte, meint: »Eigenheimbesitzer werden total plattgemacht.« Sein Kollege Martin Lewis von der einflussreichen Plattform »Money Saving Expert«, der schon länger vor einer Hypothekenkrise gewarnt hatte, sagte am Dienstag: »Die Zeitbombe explodiert jetzt.«

Die Resolution Foundation hat vor wenigen Tagen Zahlen vorgelegt, die eine solche düstere Einschätzung stützen. Wer nächstes Jahr einen Hypotheken-Deal erneuert, muss im Durchschnitt jährlich zusätzliche 2900 Pfund zahlen, schreibt die unabhängige britische Denkfabrik. Auch werde die Inflation zählebiger sein als bislang angenommen. »Britische Familien blicken einer längeren und historischen Hypotheken-Krise entgegen. Das Einzige, worauf die Haushalte hoffen können, ist, dass die Erwartung der Märkte sich als falsch herausstellt.«

Die Krise wird eine Kettenreaktion auslösen. Auch Mieter werden von teureren Hypotheken betroffen sein. In Großbritannien gibt es laut offiziellen Statistiken über 2,7 Millionen Landlords, die ihre Immobilien vermieten; geschätzte 60 Prozent haben eine Hypothek aufgenommen. Es ist zu erwarten, dass sie die steigenden Kosten ihrer Darlehen in Form höherer Mieten weitergeben.

Andere werden ihre Liegenschaften verkaufen. Das könnte einen vollumfänglichen Crash am Wohnungsmarkt nach sich ziehen, warnen Experten. Besonders wenn die Bank of England den Leitzins weiter anhebt, könnte ein Kollaps unausweichlich werden. Sollte der Leitzins nächstes Jahr auf 5,75 Prozent angehoben werden – was laut Analysten durchaus möglich ist – droht ein »Mammut-Immobilencrash«, warnt Ed Conway, Wirtschaftsjournalist von Sky News.

Die Liberaldemokraten haben die Regierung aufgefordert, einen Fonds einzurichten, um die Hypothekenzahler vor den schlimmsten Folgen steigender Zinsen zu schützen. Die Regierung lehnt dies jedoch bislang ab: Priorität habe die Zähmung der Inflation, sagte Finanzminister Jeremy Hunt am Dienstag.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!