Podcast »Scambit«: Morsendes Sexspielzeug und eine Millionenklage

Journalist Yves Bellinghausen taucht in dem Podcast »Scambit« tief in den Kaninchenbau der Schachwelt

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 4 Min.
Podcast »Scambit« – Podcast »Scambit«: Morsendes Sexspielzeug und eine Millionenklage

Der Schach-Hype ist real. Mit der Serie »Das Damengambit« landete Netflix vor drei Jahren einen Überraschungserfolg und legt jetzt nach: Im Juli veröffentlicht der Streamingdienst ein Spiel mit »Damengambit«-Königin Beth Harmon. Auch der Luxusmarke Louis Vuitton gelang dank Schach ein Hit. Auf einem Foto stellten die Fußballstars Cristiano Ronaldo und Lionel Messi eine berühmte Schachpartie nach. Das Motiv ging viral.

»Was zur Hölle ist eigentlich gerade los mit Schach?«, fragt Reporter, Journalist und Schachjunkie Yves Bellinghausen in dem Podcast »Scambit«. Der Vierteiler spürt dem wahrscheinlich größten Schachskandal der Geschichte nach. Auch den Schach-Hype bei Tiktok, Youtube und Co. erklärt Bellinghausen. Wahrscheinlich wirkt deswegen jede Folge, als würde man sich durch die sozialen Medien zappen.

Das »Schachdrama«, über das Bellinghausen berichtet, ist so weitreichend wie skurril. Am 4. September 2022 verliert der norwegische Meisterspieler Magnus Carlsen beim Sinquefield Cup in St. Louis überraschend gegen den amerikanischen Newcomer Hans Niemann eine Schachpartie. Im anschließenden Interview, als Originalton kurz angespielt, spottet der Newcomer über den (bis 2023) amtierenden Weltmeister, dass er gegen »so einen Idioten« wie ihn, Hans Niemann, verloren hatte.

Vor den darauffolgenden Matches werden die Spieler auf verdächtige Radiosignale gescannt, die Online-Übertragung wird um 15 Minuten verzögert. All das sind Maßnahmen, um Betrug vorzubeugen. Als Carlsen kurz darauf vom Turnier zurücktritt, spekuliert die Schachcommunity: Wurde hier betrogen und, wenn ja, wie? Das Gerücht, dass vibrierende Analperlen Niemann die Spielzüge in den Hintern gemorst haben sollen, twittert selbst Tech-Titan Elon Musk.

In »Scambit« geht Bellinghausen der Sache auf den Grund. Er trifft Schummel-Sheriffs und befragt Profis, wie man beim Schach betrügen kann, und testet es selbst. Der Name des Podcasts ist übrigens zusammengesetzt aus dem englischen Wort »Scam« (Betrug) und »Gambit«, einem Eröffnungszug beim Schach. Obwohl der Podcast vollgepackt ist mit Gesprächsfetzen, Soundelementen, Nerd-Wissen und Gags, verliert Bellinghausen den roten Faden nicht.

Allerdings bleiben die Gags, für die eigens Autorin Yasmin Polat engagiert wurde, öfter auf der Strecke. Bellinghausen galoppiert zu schnell durch die Schach- und Internetwelt, wirft Begriffe in den Raum, die er viele Sätze später erst wieder aufgreift. Nennt er zum Beispiel Magnus Carlsen »Schach-GOAT« klingt das zwar super, aber auch superkryptisch. Dass mit GOAT einfach nur der beste Spieler aller Zeiten gemeint ist (the »Greatest Of All Time«, kurz: GOAT), versteht man nicht. Trotzdem spricht der Podcast nicht nur Schachfreundinnen und -freunde sowie Internetfreaks an. Der Kaninchenbau hat Platz für alle.

Kaddi alias Coldmirror, bekannt durch den »5 Minuten Harry Podcast«, erklärt zum Beispiel, wie der Schachrang (ELO) ermittelt wird, und versorgt die Community zudem mit Nerdwissen über Harry Potter. Man lernt in Bellinghausens Podcast auch, dass Blitzschach fünf Minuten dauert und bei Schnellschach die Partie nach 15 Minuten beendet ist. Ganz süß: Bellinghausen plaudert auch mit seiner Mutter, die ihm das Schachspielen beibrachte. So stellt Bellinghausen nicht nur seine Expertise als Hobbybrettspieler klar, die Telefonate mit seiner Mutter sind wohltuend banal. Eine kurze Verschnaufpause, bevor das Drama wieder Fahrt aufnimmt.

Das Beispiel von Niemann und Carlsen zeigt auf eindrucksvolle Weise, was passiert, wenn die Onlineblase in die Offlinewelt überschwappt. Folge für Folge pirscht sich Bellinghausen näher an die beiden Schachprofis heran. Auf der Suche nach Niemann arbeitet sich der Journalist quer durchs Telefonbuch, entdeckt eine Gaststätte, in der Carlsen regelmäßig verkehren soll, und schreibt den Schach-GOAT Carlsen persönlich an. Bellinghausen will mehr wissen über Sonnyboy Carlsen und den charismatischen Bad Boy Hans Niemann. Er spricht mit einem ehemaligen WM-Trainer von Carlsen und befragt ihn über das skandalöse Match im September 2022. Währenddessen wird das Drama immer größer. Am Ende verklagt Niemann Magnus Carlsen und seine Geschäftspartner auf 100 Millionen Dollar. Und noch immer steht die Frage im Raum: Hat Niemann nun beim Schach betrogen oder hat Carlsen gelogen?

»Scambit« fühlt sich an wie eine Partie Blitzschach. Man vergisst alles um sich herum. Ist man nicht aufmerksam, verliert man den Anschluss.

Verfügbar in der ARD-Audiothek.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.