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  • Installation »The City of Broken Windows«

Mit dem Vorschlaghammer

Im Leipziger Museum der bildenden Künste verhandelt Hito Steyerl soziale Ungleichheit an zerbrochenen Fenstern

Das Fenster ist eine Konstruktion, die sich hervorragend dialektisch aufladen lässt. Es trennt und verbindet Außen- und Innenwelt, es ist, mit einer Glasscheibe versehen, zugleich undurchlässig und (blick)durchlässig, es wird durch seinen Rahmen definiert und mindestens ebenso sehr durch das, was nicht Rahmen ist: die Leere in der Mitte. Insofern ist wohl nicht verwunderlich, dass dem Fenster in der Kunstgeschichte ein prominenter Status zukommt – man denke etwa an Henri Matisse, der vielfach den Blick aus dem offenen Fenster malte, oder die französische Fenstertür, die Marcel Duchamp mit schwarzem Leder bespannte.

Auch Hito Steyerl, Filmemacherin und bildende Künstlerin, hat sich mit dem Fenster, besser gesagt: dem zerbrochenen Fenster, in seiner realen und metaphorischen Bedeutung beschäftigt. Herausgekommen ist die Installation »The City of Broken Windows«, die Steyerl ursprünglich für die Galerie im Turiner Castello die Rivoli konzipiert hat, wo sie 2018 zu sehen war. Nun zeigt sie das Leipziger Museum für bildende Künste (MdbK) auf der Terrasse seiner zweiten Etage – wo sie wegen der hohen Glaswände auch ziemlich gut hinpasst.

Typisch für Steyerl ist auch diese Arbeit eine recht konkrete Kritik an sozioökonomischen Strukturen. Vor den zwei kürzeren Wänden des rechteckigen Raumes hat die Künstlerin zu diesem Zweck je einen Bildschirm auf einer Staffelei installiert. Die Holzgestelle mögen zunächst etwas ornamental wirken – schließlich haben sie im Zusammenhang mit digitaler Kunst ihre ursprüngliche Funktion verloren. Doch sind sie ein Hinweis darauf, dass Bildschirme genau wie Leinwände zu Projektionsflächen für menschliche Fantasie werden können. Es heißt also wachsam bleiben: Auch wenn die Videos, die hier abgespielt werden, dokumentarisch wirken, müssen sie als Teil einer künstlerischen Arbeit verstanden werden, in der die Wirklichkeit verfremdet wird.

Auf einem der Bildschirme sehen wir Aktivisten aus der US-Stadt Camden, die sich im Verein »The Neighbourhood Foundation« engagieren. Sie fahren in von Armut und Vandalismus gekennzeichnete Stadtteile unterschiedlicher Großstädte und platzieren dort selbst bemalte, bunte Fensterattrappen vor Fenstern, deren Glasscheiben zerschlagen wurden. Ziel ist es, den Gegenden ihr trostloses Antlitz zu nehmen, sie wieder lebendiger und bewohnter wirken zu lassen. Geradezu gegenteilig handeln die Menschen, die im Video auf der gegenüberliegenden Wandseite zu sehen sind: Zwei junge Ingenieure von der Firma Audio Analytics aus Cambridge (UK) werden dabei gezeigt, wie sie immer wieder Glasscheiben mit einem Vorschlaghammer zertrümmern. Sie tun das im Dienst der Sicherheits- und Überwachungsindustrie: Mit jedem Glasklirren, das sie erzeugen, wird ein Algorithmus trainiert, der Einbrüche und Vandalismus sofort erkennen soll.

Es ist eine Gegenüberstellung, die auf die Rolle von neuer Technologie innerhalb bestehender Herrschaftsverhältnisse verweist. Die neuen Sicherheitssysteme dienen dazu, Eigen- bzw. Reichtum zu beschützen – während sich die Schere zwischen Arm und Reich global immer weiter öffnet. Der technologische Fortschritt, den die Ingenieure von Audio Analytics produzieren, bringt keinen gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne eines sozialen Wandels. Den versuchen hingegen die Aktivisten einzuleiten – indem sie ganz altmodisch Handarbeit leisten.

Zur gleichsam absurden Arbeit der Ingenieure passen die KI-generierten Nonsens-Sätze, die über die lange Fensterwand (und daran angelehnte Fensterattrappen) verlaufen. Sie künden von einer unheimlich entrückten Utopie: »Glasscherben fallen über die Pioniere dieser Sprache. Wir sind Technologie. Wir werden neue Grenzen finden«, steht hier zum Beispiel, oder »Das Geräusch von zerbrechendem Glas wird zu seinem eigenen Schatten und hallt als Musik durch die Stadt.« An der gegenüberliegenden Wand hingegen wird der französische Ökonom Frédéric Bastiat (1801 – 1850) zitiert. Mit seiner »Parabel vom zerbrochenen Fenster« entlarvte er die Vorstellung, dass durch die Zerstörung von Gütern die Wirtschaft angekurbelt werde, als Trugschluss.

Nicht jeder Zusammenhang, den Steyerls Installation aufzeigt, mag sich für Besucherinnen und Besucher sofort erschließen – daher ist der mehrere DIN-A4-Seiten umfassende Text von MbdK-Direktor Stefan Weppelmann, der im Raum ausliegt, fraglos hilfreich. Detailliert schlüsselt Weppelmann auf, wie die einzelnen Teile von Steyerls Arbeit zu verstehen sind und wie sie sich aufeinander beziehen. Doch die Kombination aus zum Kunstwerk gehörenden Informationen – so lässt sich Weppelmanns Text etwa entnehmen, dass Steyerl auch selbst eine Glasscheibe zerschlagen hat, um einen Soundtrack für das Audio-Analytics-Video zu kreieren – und einer umfassenden Deutung, wie sie der Kunsthistoriker hier vornimmt, ist durchaus nicht unproblematisch. Sie kann andere daran hindern, sich dem Werk durch eigene Gedanken zu nähern und es dabei gleichzeitig vor Kritik abdichten. Manche Inhalte, die Weppelmann erklärt, müssten idealerweise im Werk selbst erkennbar sein – sei es in Form von Text, Rede oder Handlungen.

Freilich könnte eine eigene Deutung sowieso nur erfolgen, wenn man die Inhalte der Videos sprachlich und akustisch verstünde, und das gestaltet sich potentiell als Herausforderung. Nicht nur wegen der verschiedenen Geräusche, die sich im Raum überlagern, sondern auch, weil die Videos keine deutschsprachigen Untertitel enthalten. Ironischerweise wird so die Installation, die soziale Ungleichheit thematisiert, selbst nur einem bestimmten Milieu zugänglich. Schade, denn es handelt sich um ein ästhetisch vielschichtiges Werk, das einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

»The City of Broken Windows«, bis zum 15. Oktober., Museum für bildende Künste, Leipzig

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