Kinderarmut: Ein schlechtes Zeugnis für den Staat

Bevölkerungsmehrheit kritisiert das unzureichende politische Engagement gegen Kinderarmut

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.
Holger Hofmann, Geschäftsführer des Kinderhilfswerks, Familienministerin Lisa Paus und Thomas Krüger, Präsident des Hilfswerks präsentieren den Kinderreport 2023.
Holger Hofmann, Geschäftsführer des Kinderhilfswerks, Familienministerin Lisa Paus und Thomas Krüger, Präsident des Hilfswerks präsentieren den Kinderreport 2023.
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Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland geht davon aus, dass hierzulande zu wenig gegen Kinderarmut unternommen wird. Zu diesem Ergebnis kommt der Kinderreport 2023 des Deutschen Kinderhilfswerks. Die Organisation stellt Bund, Ländern und Kommunen in ihrer Studie kein gutes Zeugnis aus. Staat und Gesellschaft müssten »mehr als bisher gegen die Kinderarmut in Deutschland unternehmen«, sagte der Präsident des Kinderhilfswerks Thomas Krüger am Donnerstag in Berlin bei der Vorstellung des Reports. Kinderarmut sei nicht weniger als ein »gesellschaftlicher Skandal«.

Für den Report befragte das Kinderhilfswerk 682 Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 17 Jahren sowie 1011 Erwachsene. Lediglich 7 Prozent der Erwachsenen und 5 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen gaben an, dass sehr viel zur Reduzierung der Kinderarmut getan werde. 72 Prozent der Erwachsenen und 61 Prozent der Kinder und Jugendlichen waren hingegen der Auffassung, dass eher wenig bzw. sehr wenig gegen Kinderarmut unternommen werde. Neben diesem unzureichenden Engagement sind nach Ansicht von 83 Prozent der Erwachsenen und sogar 93 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu niedrige Einkommen von Eltern der Hauptgrund für Kinderarmut. Zudem benennen 78 Prozent der Erwachsenen und 80 Prozent der Kinder und Jugendlichen die zu geringe Unterstützung für Alleinerziehende als wichtige Ursache.

Kinderarmut ist in der reichen Bundesrepublik ein weitverbreitetes Phänomen. Anfang des Jahres wurde eine Studie der Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht, wonach mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut bedroht ist. Das sind fast 3 Millionen Mädchen und Jungen. Hinzu kommen 1,5 Millionen Jugendliche im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, die ebenfalls von Armut betroffen sind – das ist jeder vierte junge Erwachsene in Deutschland. Besonders hoch ist das Armutsrisiko für junge Menschen in Familien mit alleinerziehenden Eltern oder mit mehr als zwei Kindern. Zudem sind Frauen stärker betroffen als Männer.

Armut ist für Kinder und Jugendliche meist eine bittere Erfahrung, die ihr späteres Leben beeinflusst. Sich keine Geburtstagsgeschenke leisten zu können oder nicht an Ausflügen teilzunehmen, auf Freizeitbeschäftigungen verzichten zu müssen oder Freund*innen nicht einladen zu können, prägt den weiteren Lebensweg. Dies hat nicht nur psychologische Folgen. Verschiedene Studien haben immer wieder belegt, dass Personen, die in Armutsverhältnissen aufwachsen, auch später arm sind. Meist bleiben die Kinder von Eltern ohne oder mit schlechter Ausbildung später auch selbst ohne einen Abschluss. Kinderarmut stellt somit die Wurzel für soziale Ungleichheit dar. Dies ergibt sich auch aus den Zahlen des Kinderreports.

Dieser zeige daher auch »glasklar auf, dass die Menschen in unserem Land Staat und Gesellschaft in der Pflicht sehen, mehr als bisher gegen die Kinderarmut in Deutschland zu unternehmen«, erklärte Thomas Krüger. Es brauche ein Gesamtkonzept, das mit ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet ist und umfassende Reformen bündelt. Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik seien ebenso zu berücksichtigen wie Familien- und Bildungspolitik, Gesundheits- und Sozial- sowie Stadtentwicklungs- und Wohnungsbaupolitik. »Es braucht höhere Löhne, mehr Unterstützung für Alleinerziehende, mehr Investitionen in Schulen und Kitas, mehr bezahlbaren Wohnraum und letztlich auch höhere und leichter zugängliche Sozialleistungen«, so Krüger.

Auch die Befragten des Kinderreports erwarten von der Politik konkrete Maßnahmen gegen Kinderarmut. Ein Großteil würde sogar grundlegende Veränderungen politischer Rahmenbedingungen unterstützen, um Kinderarmut zu bekämpfen. Dazu gehören für die Befragten die Unterstützung einkommensschwacher Familien durch Lehrmittelfreiheit, kostenfreie Beteiligungsmöglichkeiten an Bildung, Kultur und Sport, kostenlose Ganztagsbetreuungen und kostenfreies Essen in Schulen und Kitas sowie mehr günstiger Wohnraum. Große Zustimmung erfährt auch die Forderung, in Schulen und Kitas mehr Fachkräfte und Sozialarbeiter*innen einzusetzen. Auch bei der Frage der Finanzierung dieser Maßnahmen gibt es eine große Übereinstimmung unter den Befragten: Knapp zwei Drittel der Erwachsenen wären bereit, mehr Steuern zu bezahlen, wenn damit das Problem der Kinderarmut in Deutschland wirksam bekämpft würde.

Entscheidend hierfür werden somit Angebote des Staates sein, armutsgefährdete Familien konkret zu unterstützen. Hier gibt es noch viel zu tun, zum Beispiel bei der Kindergrundsicherung, die das Kinderhilfswerk gemeinsam mit dem Bundesfamilienministerium fordert. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) bekräftigte bei der Vorstellung des Kinderreports am Donnerstag in Berlin die Bedeutung der Kindergrundsicherung: »Sie ist der zentrale Beitrag der Bundesregierung zur Armutsbekämpfung von Kindern und Jugendlichen.« Ein Gesetzentwurf zur Kindergrundsicherung, die alle bisherigen Maßnahmen der Unterstützung für Kinder bündeln wird, soll Ende August im Bundeskabinett beschlossen werden, bekräftigte Paus. Unklar ist jedoch weiterhin deren finanzielle Ausstattung: Lisa Paus hatte jährlich 12 Millarden Euro gefordert, Finanzminister Christian Lindner (FDP) nur 2 Milliarden zugesagt.

Um zusätzlich gegen Kinderarmut vorzugehen, verabschiedete das Bundeskabinett am Mittwoch den nationalen Aktionsplan »Neue Chancen für Kinder in Deutschland«. Damit setzte es die Empfehlung des Europäischen Rates zur Einführung einer Europäischen Kindergarantie um, die 2021 von allen EU-Mitgliedstaaten verabschiedet wurde. Demnach soll bis 2030 der Zugang zu hochwertiger frühkindlicher Betreuung, Bildung, Gesundheitsversorgung, Ernährung sowie Wohnraum für alle gewährleistet sein.

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