Emissionshandel: Zeit der CO2-Überschüsse neigt sich dem Ende zu

Der Ausstoß von Energiewirtschaft und Industrie geht auch wegen des zu laschen Emissionshandels kaum zurück. Das soll sich ändern

  • Jörg Staude
  • Lesedauer: 4 Min.

20 Jahre nach seinem Start zeichnet sich beim Emissionshandel der EU eine Trendumkehr ab. In wenigen Jahren könnte es tatsächlich zu einer Knappheit der CO2-Zertifikate für Energiewirtschaft und Industrie kommen. Das zumindest sagt die Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHST) voraus. Diese ist beim Umweltbundesamt angesiedelt und zuständig für Zuteilung und Ausgabe der Emissionsberechtigungen sowie für Überwachung und Berichterstattung.

»Die einzige Industriebranche, deren Emissionen 2022 zunahmen, sind die Raffinerien«, erläuterte Alexandra Zirkel von der Emissionshandelsstelle am Freitag in Berlin bei der Vorstellung der Bilanz für das vergangene Jahr. »Das Plus liegt verglichen mit 2021 bei vier Prozent.« Die groben Trends waren bereits bekannt: Die Energiewirtschaft stieß mehr Treibhausgase aus, weil die Kohle für das teure und knappe Erdgas in die Bresche sprang. Die energieintensive Industrie dagegen blieb um sechs Prozent unter dem Emissionsniveau des Vorjahres. Wegen der Folgen des Ukraine-Krieges wurde Produktion heruntergefahren, etwa bei Stahl, Zement, Chemie und Papier. Summa summarum fiel die Gesamtmenge der Emissionen der beiden Sektoren nur minimal auf 354 Millionen Tonnen.

Expertin Zirkel berichtet von einer gestiegenen Nachfrage nach Treibstoffen, vor allem nach Kerosin. Nach dem Ende der Covid-19-Pandemie sei wieder mehr geflogen worden. Im Luftverkehr lagen die Emissionen 2022 bei 7,2 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent und damit deutlich über denen von 2021 (4,6 Millionen), aber noch unter dem Vor-Corona-Niveau von 2019 (neun Millionen). Berücksichtigt wird hier aber nur die Klimawirkung der Flüge im Inland.

Insgesamt erfasste der EU-Emissionshandel in Deutschland letztes Jahr 354 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent, das sind 47 Prozent aller inländischen Emissionen. Ein Drittel steuerten dazu allein die acht noch laufenden großen Braunkohlekraftwerke bei.

Die Zukunft der fossilen Stromerzeugung wird maßgeblich vom Emissionshandel mitentschieden, der die Emissionen mittels einer bestimmten Menge verfügbarer Papiere begrenzen und verteuern soll. Das Bundeswirtschaftsministerium hat in seinen Antworten auf die berühmten 77 Fragen der FDP den Ausstoß der Kohleverstromung für 2030 mal eben auf null gesetzt. Man hofft, dass ein steigender CO2-Preis im Emissionshandel die Braunkohle auch dort relativ schnell unwirtschaftlich macht, wo noch kein Ausstieg bis 2030 politisch beschlossen ist wie für das rheinische Revier.

Hier könnte die EU helfen. Der Staatenbund will seine Klimaemissionen bis 2030 um 55 Prozent unter den Stand von 1990 senken. Dazu wurden in der jetzigen vierten Handelsperiode, die von 2021 bis 2030 läuft, die Regeln des Emissionsmarktes endlich verschärft. Nach dem Start des für die Energiewirtschaft und Industrie geltenden Emissionshandels 2005 war die Menge der kostenlos zugeteilten oder am Markt gekauften Zertifikate zunächst fast immer größer als die Menge des tatsächlichen CO2-Ausstoßes. »Wir hatten erhebliche Zertifikats-Überschüsse im Markt«, bestätigt auch Jan Weiß von der DEHST. Nach deren Angaben lag der Überschuss zum Start der vierten Handelsperiode noch immer bei etwa 200 Millionen Zertifikaten. Ein Papier berechtigt zum Ausstoß einer Tonne Kohlendioxid. Unternehmen dürfen nur soviel emittieren, wie sie durch Zertifikate abdecken können.

EU-weit beträgt der Überschuss immer noch etwa 1,1 Milliarden Tonnen. Das ist kaum weniger als der Ausstoß aller handelspflichtigen Anlagen 2022 zusammen. »Es ist ein Problem, wenn die Ziele bei der Emissionsreduktion in den vergangenen Jahren stets über der Entwicklung der realen Emissionen lagen«, beschreibt Experte Weiß. Das dürfe man aber nicht dem Instrument des Emissionshandels zur Last legen. Ursache seien die mangelhaften politischen Ziele zur Emissionsminderung. Hier habe sich ein enormer Handlungsbedarf aufgebaut.

Um den Preisverfall zu stoppen, waren zunächst Zertifikate für drei Milliarden Tonnen bis Ende 2022 lediglich in eine »Marktstabilitätsreserve« geschoben worden. Nach langen Debatten hat die EU inzwischen auch gehandelt. Zunächst wurden Anfang des Jahres etwa 2,5 Milliarden Zertifikate in der Marktreserve endgültig gelöscht. Außerdem dürfen 2030 innerhalb des EU-Emissionshandels nur noch maximal 800 Millionen Tonnen CO2 emittiert werden – deutlich weniger als die aktuellen 1,3 Milliarden Tonnen. Weiß spricht sogar von einer »klimapolitischen Zeitenwende« im Emissionshandel: »Wir kommen jetzt in eine Phase struktureller Knappheiten.« Diese wird nach Berechnungen der DEHST ungefähr 2025 beginnen. Mit den jetzt vereinbarten Zielen im EU-Emissionshandel sei die fossile Energieerzeugung ganz klar ein Auslaufmodell, und das betreffe sowohl Kohle als auch Erdgas.

Wie sich die neuen Regeln konkret auf den CO2-Preis und die CO2-Reduktion auswirken, lässt sich aber nur schwer voraussagen. Auf dem Markt sind auch Finanzinvestoren am Werk, die je nach Gewinnerwartung Zertifikate kaufen oder verkaufen und den Preis so »verzerren« können. Des Weiteren haben sich viele Unternehmen, die handelspflichtige Anlagen betreiben, zu Zeiten niedriger CO2-Preise Vorräte an Zertifikaten zugelegt – wie groß diese sind, ist nicht bekannt. Und ein Verfallsdatum für die Emissionsrechte gibt es bisher nicht. Nicht zuletzt werden Kraftwerke und energieintensive Industrie noch bis zum Jahr 2034 mit kostenlosen Zertifikaten bedacht. Deren Anteil lag im Energiebereich 2022 bei zwölf Prozent, woraus vor allem die Miterzeugung von Wärme gestützt wird. Die energieintensive Industrie in Deutschland konnte sogar 87 Prozent ihrer handelspflichtigen Emissionen kostenlos decken.

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