- Kultur
- Lyrik auf Reisen
Eine Stufe zum Himmel
Cornelia Travniceks neue Lyrik bereist die Welt, auch um das europäische Hier besser zu verstehen
Osten – das ist doch da, wo die Sonne aufgeht. Nur von welchem Standpunkt aus? Westlich betrachtet lässt sich die Erde eigentlich immer bequem ordnen. »Auch hier / Zwischen den Teehäusern / In der Altstadt Sarajewos / Wo die Idee von Europa / Langsam an den Ländern ausfranst«. Diese Verse von Cornelia Travnicek bringen die ganze Paradoxie unserer hiesigen Weltsicht auf den Punkt: Einerseits wissen wir vermeintlich über alles Bescheid und erklären unsere Position zum globalen Zentrum, andererseits drohen wir in der dissonanten Vielstimmigkeit zwischen Rom, Paris, Berlin und Budapest längst unseren eigenen Ort zu verlieren.
Was angesichts dieser fatalen Verengung des Blicks ausschließlich hilft, ist das Reisen, dem die 1987 in St. Pölten geborene Autorin ihren dritten, fantastischen Gedichtband »Assu« gewidmet hat. Von Rumänien bis Japan reicht ihre Route, mal angetreten mit der Bahn, mal bewerkstelligt mit einem Roller, dessen Ersatzbatterie man mitten im Nirgendwo gleich im Gepäck hat. Das implizite Motto der Poeme: Erweitere deinen Horizont! Und zwar mit dem Geist der Bewunderung, die sich mitunter in Indien entfaltet.
Während Jaipur, die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Rajasthan, dem lyrischen Ich als »Stufe zum Himmel« erscheint und der dortige alte Königspalast wie »eine Orgel« aussieht, weckt das Taj Mahal am Stadtrand von Agra im Bundesstaat Uttar Pradesh Assoziationen zum Märchen. Einst ließ der Großmogul Shah Jahan das marmorne Mausoleum zu Ehren seiner verstorbenen Frau Mumtaz errichten. Ob sie sich wohl im Jenseits wiedergefunden haben? Zwar »spiegelt sich im Wasser des Paradieses« die Krone der betrauerten Gattin. Allerdings macht sich bei diesem »Schneewitchen« auch eine »eine Träne, die nicht fallen kann« bemerkbar. Die Grenze zwischen Leben und Tod, sie lässt sich auch in diesem anmutigen Text letztlich nicht überwinden. Es bleibt ein Rest Mythos, ein Rest Geheimnis.
Trotz solcherlei Faszination für das Fremde hat Travnicek überdies stets das kolonialistische Erbe ihrer Ahnen im Bewusstsein. Indem die Dichterin schreibt: »Wir warten erster Klasse / Auf ein authentisches Erlebnis / Der Tee schmeckt in allen Wagen / Gleich«, gibt auch sie zu, ungewollt Teil einer touristischen Maschinerie zu sein. Privilegiert erwartet man auf unbekanntem Terrain, wofür man schließlich viel Geld bezahlt hat, das Neue und Einzigartige. Dies gilt ebenfalls für den Besuch im Nationalpark. Dort »liegt das Tier wie ein gelangweilter Schauspieler / Unterfordert in seinem eigenen Schatten«. Schakale und Hirsche haben sich für Besucher mit dem Jeep ohnehin ganz in die Rolle als Statisten eingefunden.
Nicht mit Ironie zu sparen und gleichsam offen für Verzauberung zu bleiben – darin besteht die Kunst dieser kaleidoskopischen Lyrik, die nach zahlreichen Stationen in diversen Ländern und auf verschiedenen Kontinenten am Schluss auch ein wenig über den Begriff der Heimat nachdenkt. »Was haben wir nicht schon alles versucht / Wegzuschließen«, fragt das lyrische Ich, »was ausgegrenzt was ein- / Kann auch eine Frage der Perspektive sein / Die zerrissene Gesellschaft / Noch von einer Naht aus Überlandleitungen / zusammengehalten«. Ist es also legitim, bestimmte Gruppen zu marginalisieren, um den inneren Wesenskern einer Kultur (viele große Worte!) zu sichern? Diese Gedichte meinen eindeutig: Nein.
Ohne konkret auf das Massensterben an den Seegrenzen um Europa herum abzuheben, kann »Assu« für sich eine ungemeine Aktualität beanspruchen. Der Band zeugt von einer souveränen politischen Haltung und verspricht zugleich Refugien zur imaginären Gegenwartsflucht. Diese kulturelle, kartografische und ästhetische Weite kann man nur als Geschenk bezeichnen.
Cornelia Travnicek: Assu. Aus Reisen: Gedichte. Limbus. 96 S., geb., 15 €.
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