Die Rettung von Altamirano

Andreas Pawel über die Stasi und den Pinochet-Putsch vor 50 Jahren

  • Evelin Wittich
  • Lesedauer: 4 Min.
Chile 1973: Die Rettung von Altamirano

Zeitzeugen des Putsches vom 11. September 1973 in Chile werden sich vermutlich noch gut an die schockierenden Nachrichten über den Sturz der gewählten sozialistisch orientierten Regierung unter Salvador Allende erinnern, an das Entsetzen über Folter und Mord an Anhängern der Unidad Popular. Eine Welle der Solidarität mit den Verfolgten durchzog nicht nur die DDR. All das fand wenige Wochen nach den politisch inspirierenden Tagen der Weltfestspiele der Jugend und Studenten im August in Ost-Berlin statt.

Andreas Pawel versetzt uns mit seinem Buch über die Rettung des zweiten Mannes in Chile, des damaligen Generalsekretärs der Sozialistischen Partei, Carlos Altamirano, durch Mitarbeiter der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, zurück in eine hoch dramatische Zeit. Der Autor ist eher zufällig bei Recherchen zur Regionalgeschichte auf dieses Kapitel gestoßen.

Zu den politischen Konsequenzen aus dem Putsch vor 50 Jahren gehört für viele Linke noch heute die Bestätigung der Überzeugung, dass eine sozialistische Regierung nicht nur durch demokratische Wahlen an die Macht kommen und ihre politischen Ziele verwirklichen kann, zu denen in Chile die Verstaatlichung des Kupferbergbaus gehörte. Pawel, selbst Bergmann, hatte sich bisher vor allem mit der Geschichte des Bergbaus im Harz beschäftigt, aber auch ein beeindruckendes Buch über die Villen in Blankenburg geschrieben. Die persönliche Begegnung mit Rudolf Herz, einem ehemaligen Harzer Bergmaschineningenieur, lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Ereignisse rund um die Rettung von Altamirano vor den Häschern Pinochets. Herz war bei dieser ein Hauptakteur.

Es war Zufall, dass die Schergen der Militärjunta Altamirano, nach dem sie schon in den ersten Stunden des Staatsstreiches fahndeten, nicht fassen, dieser sich tagelang vor ihnen von Versteck zu Versteck verbergen konnte. Die DDR-Botschaft in Santiago bot damals verzweifelten Chilenen Schutz an. Es gelang ihr, viele von ihnen illegal aus dem Land zu schleusen. Doch da die DDR sofort nach dem gewaltsamen Umsturz die diplomatischen Beziehungen mit den neuen Machthabern abbrach, verlor sie auch den diplomatischen Status, was die Rettungsaktionen sehr erschwerte. Ohne die Unterstützung anderer Botschaften, vor allem der finnischen, hätten viele Menschenleben nicht bewahrt werden können. Altamirano konnte wegen seines Bekanntheitsgrades auf diese Weise nicht außer Landes gebracht werden. In kürzester Zeit wurde für ihn von Organen der DDR ein besonderer Plan mit verschiedenen Varianten erarbeitet. Der auf Lateinamerika spezialisierte OibE (Offizier im besonderen Einsatz) Rudolf Herz wurde nach Santiago de Chile geschickt. Er übernahm, über weite Strecken völlig auf sich allein gestellt, die Absicherung der höchst riskanten Flucht von Altamirano über die Berge nach Argentinien.

Pawel, der 1973 erst 13 Jahre alt war, beschreibt diese Odyssee spannungsreich, bis ins Detail gut recherchiert und teilweise in einer den atemberaubenden Ereignissen angemessenen Sprache. Die Beschreibung der Charaktere der handelnden Personen entspricht mitunter eher dem heutigen Zeitgeist. Authentisch sind die Auszüge aus den Protokollen der Comisión Nacionál sobre Prisión y Tortur von 2004, der sogenannten Valech-Kommission (benannt nach ihrem Vorsitzenden Sergio Valech Aldunate), die die Opfer der Militärdiktatur erfassen, die grausamen Folterungen und Morde an politischen Gefangenen im Gefolge des Putsches publik machen sollte. Auch die Schilderung der Vorgänge in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1973 in den chilenischen Streitkräften und im Präsidentenpalast, der Moneda, bis zum Selbstmord des Präsidenten Salvador Allende sind an den neuesten Erkenntnissen orientiert.

Dass die Regierung der DDR die einzige weltweit war, die die Allende-Regierung vor dem Putsch gewarnt hatte, dürfte für viele Leser und Leserinnen überraschend sein. Pawel weist überzeugend nach, wie sie zu diesen Informationen gekommen ist. Auch die Rolle von DDR-Technikern, Kapitänen der Deutschen Seerederei und vielen anderen bei der Rettung vor allem von Linken vor dem Pinochet-Regime Beteiligten, in verschiedenen chilenischen Quellen ausdrücklich gewürdigt, wird berichtet. Ein wertvoller Beitrag zur Erhellung von Weltgeschichte in Zeiten des Kalten Krieges.

Andreas Pawel: Auf der Flucht. Der große Coup der Stasi in Chile 1973. Verlag Bussert & Stadeler, 128 S., br., 14,90 €.

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