• Berlin
  • Anarchistische Geschichte

Schwarz-roter Wedding: Ein historischer Stadtrundgang

Nicht nur Sozialdemokratie und Kommunistische Partei – in Wedding waren seit der Kaiserzeit auch anarchistische Gruppen aktiv

  • Darius Ossami
  • Lesedauer: 5 Min.
Maidemonstration des Jahres 1930 in der Kösliner Straße: Die Arbeiter*innenbewegung in Wedding war nicht nur kommunistisch ausgerichtet, auch wenn sich das Bild des »Roten Wedding« durchgesetzt hat.
Maidemonstration des Jahres 1930 in der Kösliner Straße: Die Arbeiter*innenbewegung in Wedding war nicht nur kommunistisch ausgerichtet, auch wenn sich das Bild des »Roten Wedding« durchgesetzt hat.

Am Samstagnachmittag steht Jens Keßler von der Gustav-Landauer-Initiative am Eingang zum U-Bahnhof Gesundbrunnen. Seinen tatsächlichen Namen, welcher der Redaktion bekannt ist, möchte der Referent nicht nennen, weil er Sanktionen aufgrund seiner Tätigkeit befürchtet. Wortreich versucht er, einen Überblick über die verschiedenen anarchistischen und linkssozialistischen Gruppierungen zu geben, die im Berliner Ortsteil Wedding von der Kaiserzeit bis zum Ende der Weimarer Republik aktiv waren. Trotz unsicherer Wetterlage nach einem gerade vorübergezogenen Gewitter macht sich ein Dutzend Leute auf den Weg durch das Gewusel aus Verkehr, Obstständen und Eis essenden Familien.

Unterwegs versucht Keßler, die Hintergründe aufzuklären. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts organisierten sich Arbeiter*innen europaweit in sozialistischen und anarchistischen Gruppen. »Man hat in der Kaiserzeit alles versucht, um die Arbeiterbewegung einzuschränken«, referiert er. Nach zwei Attentaten auf Kaiser Wilhelm I. erließ Bismarck 1878 sein berüchtigtes Sozialistengesetz: Bis 1890 blieben Vereine, Versammlungen und Schriften der noch jungen Sozialdemokratie verboten.

Das betraf auch die anarchistischen Gruppen. Ihre Aktionen waren daher »sehr moderat«, wie es Keßler vorsichtig formuliert, denn die Strafen waren drakonisch. Sie organisierten hauptsächlich den Schmuggel und die Verbreitung von illegalen anarchistischen Druckschriften. Nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 waren zwar wieder Versammlungen möglich, dennoch blieb der politische Spielraum der Anarchist*innen eng begrenzt. Die »politische Polizei« war immer vor Ort und sammelte Erkenntnisse über alle ihnen bekannten Anarchist*innen.

An vom Sturm abgerissenen Ästen vorbei geht es zu einem ehemaligen »Diskussionsclub« in der Grüntaler Straße 6. Hier erörterten die Anarchist*innen Produktionsmöglichkeiten ohne Ausbeutung und diskutierten über das Verhältnis von Anarchismus zu Religion, Erziehung und Gewalt.

Weiter führt der Rundgang zu Orten der »anarchistischen Subkultur«. Die erste »große Zeit des Anarchismus war zwischen 1890 und 1900, als es eine enge Verbindung mit der Kultur- und Lebensreformbewegung gab«, schwärmt Keßler. Ihre knappe Freizeit verbrachten die Arbeiter*innen bei Musikveranstaltungen, Ausflügen und Kneipenabenden. Gesangsvereine wie »Frisch voran« sangen revolutionäre Lieder, es gab auch Wohltätigkeitsaktionen für oftmals kranke und inhaftierte Gefangene. So fand 1895 eine große Matinee im Veranstaltungssaal in der Stettiner Straße 57 statt. Im alten Badehaus in der Badstraße 35/36, dem Ursprung des Gesundbrunnens, veranstalteten Anarchist*innen 1897 einen großen Sommernachtsball inklusive »Volks-Belustigungen aller Art«.

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Die Reduzierung des Anarchismus auf Attentate hält Keßler für ein »Missverständnis«: Eigentlich kämpften Anarchist*innen für Freiheit und Selbstbestimmung statt staatlicher Bevormundung. Gewaltanwendung sei verpönt gewesen. Doch nach dem Attentat auf Kaiserin Elisabeth von Österreich (»Sisi«) 1898 wurden sämtliche polizeibekannten Anarchist*innen zwangsweise fotografiert und katalogisiert. Das »Anarchistenalbum« lag allen obersten Polizeibehörden vor, die Zentralstelle für die Beobachtung von Anarchist*innen befand sich in Berlin.

Nach dem Attentat verstärkte die Polizei die Repression auch gegen jene, die friedlich eine freie Gesellschaft anstrebten. Bis 1904 verbot die Polizei fast alle anarchistischen Versammlungen, hinzu kam eine breite mediale Stigmatisierung. Auch Auseinandersetzungen innerhalb der Bewegung sowie die öffentliche Distanzierung führten zu einer Schwächung der anarchistischen Gruppierungen.

In der Badstraße gab es zwei große Versammlungsräume, die sich direkt gegenüberlagen. Die Halle in der Badstraße 19, die 1989 abgerissen wurde, war ein beliebter Treffpunkt für Arbeiter*innen. 1914 rief hier der Anarchist Berthold Cahn kurz nach der Mobilmachung zur Verhinderung des Ersten Weltkriegs auf, während Rosa Luxemburg vis-á-vis dasselbe forderte.

Am Wiesenweg 29 stand früher das Geburtshaus von Theodor Plievier (1892–1955), »dem deutschen Jack London«. Der Schriftsteller unterstützte die 1919 gegründete anarcho-syndikalistische Gewerkschaft Freie Arbeiter-Union Deutschland (FAUD). Schnell wuchs die FAUD auf bis zu 150 000 Mitglieder an, wurde jedoch durch SPD-Erlasse wie das Betriebsrätegesetz entmachtet und verlor 1923 massiv an Unterstützung.

Nach Krieg, Aufständen, Putschversuchen und Inflation standen die Anarchist*innen ziemlich alleine da. Die von der Sowjetunion beeinflussten Kommunist*innen wollten eine autoritäre Diktatur des Proletariats, für die libertär gesinnten Anarchist*innen kam das nicht infrage. »Man kann von Glück sagen, dass man den Kaiser stürzen konnte, aber die Revolution konnte nicht fortgeführt werden«, bilanziert Keßler.

Der Rundgang endet in der Kösliner Straße. Die ist durch den kommunistischen Roman »Barrikaden am Wedding« von Klaus Neukrantz berühmt. Tatsächlich errichteten Arbeiter*innen hier am 1. Mai 1929 Barrikaden, aber keinesfalls nur Kommunist*innen. In mehreren Stadtteilen kam es zu Barrikadenkämpfen, an denen sich in Neukölln auch Anarchist*innen wie Erich Mühsam beteiligten. Die alte Wohnbebauung der Kösliner Straße wurde in den 60er Jahren abgerissen, »auch um einen sozialen Unruheherd zu befrieden«.

»Schon in der Kaiserzeit waren in Berlin die anarchistischen Gruppen und in den 20er Jahren vor allem die FAUD wahrnehmbare politische Akteure«, schlussfolgert Keßler.

»Sie traten stets für Freiheit und Selbstbestimmung ein. Auch wenn die staatliche Repression die Verwirklichung weitgehender Projekte verhinderte, sind viele der politischen Ziele heute Allgemeingut geworden, zum Beispiel die völlige Gleichstellung aller Menschen, die Forderung nach Bildung und Kultur für alle. Mit der Forderung nach Selbstbestimmung ohne Staat und religiöse Bevormundung sowie der Abschaffung jeder Form der Herrschaft von Menschen über Menschen, darunter Ausbeutung jeder Art, ging man schon damals weit über die Ziele anderer Zweige der Arbeiterbewegung hinaus«, sagt der Referent der Gustav-Landauer-Initiative.

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