Über sieben Berge

Über Identitäten, Werte und Manieren

  • Jana Talke
  • Lesedauer: 3 Min.

Howdy aus Texas, liebe Lesende,

meine persönliche Assistentin, also meine Facebookseite, erinnerte mich gerade daran, dass es nun ganze sieben Jahre her ist, seit meine Familie und ich von Hamburg nach Dallas zogen. Und auch wenn meiner bescheidenen (aber immer richtigen) Meinung nach niemand sich so schnell in den USA integrieren kann wie wir Nordeuropäer, so haben auch wir bis heute noch, oder eher bis an unser Lebensende, mit einigen bizarren US-Widrigkeiten zu kämpfen. Und ich meine nicht einmal das unlogische Maßeinheitensytem, das eine 1-Liter-Colaflasche mit 33.8 FL OZ füllt!

Es beginnt mit der eigenen Identität. Ich wusste bis zu meiner Ankunft in Texas nicht, dass ich Kaukasierin bin. Auch wenn ethnisch russisch, so ist für meinen Genpool der Kaukasus doch recht weit weg, ganz zu schweigen von meinem hochhanseatischen Gatten. Aber »Caucasian« beschreibt hier nun mal Menschen mit weißer Hautfarbe; ein historischer Fehler, den anscheinend niemand zu etwas Sinnvollerem wie »European descent« korrigieren möchte. Warum ist das überhaupt erwähnenswert, fragen Sie sich? Weil jedes auszufüllende Dokument, vom Hautarzt-Patientenformular bis hin zum Hypothekenantrag, die »races« seiner Ausfüller abfragt! Was wir Deutsche als fragwürdig bis ekelhaft empfinden, ist hier dafür da, Krankheitsprophylaxe zu betreiben oder Antidiskriminierungsstatistiken zu erheben. Logisch eigentlich, wenn die Bezeichnungen nicht so verwirrend wären. Anstatt einer »Latin American«-Kategorie beispielsweise, wird oft eine ganze Liste zur Auswahl angeboten: »Spanish, Hispanic, Latino, Mexican, Puerto Rican, Other«. Seit wann sind Länder und Territorien gleich »races«? Und was kreuzt der kaukasisch-romanische Spanier eigentlich an?

Talke talks

News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.

Auch unser wertendes Wertesystem wird hier auf den Kopf gestellt. Sind in Deutschland Mäßigung und Disziplin Tugenden, gilt in den USA: »work hard and spend money«. Mit Betonung auf Letzteres – täglich heißt es: Hardcore-Spending und Spendengelder! Das klappt auch richtig gut, denn die Amis verdienen, verglichen mit dem EU-Durchschnitt, unheimlich viel und geben davon mindestens genauso viel aus. Oder eher mehr: Brunch für ein paar Freundinnen catern lassen? Einparkservice in der Mall? Barkeeper für eine Hausparty? Fernseher im Garten? Fensterputz- und Rasenmäh-Crews? Acht Dollar für ein Croissant? 25 Dollar die Stunde für einen Babysitter? Luftballongirlande für 300 Dollar? Das alles entspricht nicht dem Lifestyle der Schickeria, sondern dem der sogenannten Mittelklasse. Auch ich habe schon einige Acht-Dollar-Croissants vertilgt. Prädikat: Leider geil (aber auch nicht viel besser als die Zwei-Euro-Dinger von Le Crobag).

Manieren sind den Südstaaten-Amis extrem wichtig, aber auch die sind anders als erwartet. Männer sind zwar Gentlemen, die Frauen und Kinder vorlassen und allen ihre Hilfe anbieten. Aber dann tragen sie Cowboyhüte und Baseballcaps in den elegantesten Etablissements! Tischmanieren, wie wir sie kennen, existieren nicht. Gekrümmt in sich hineinschaufelnd, Digestif als Aperitif (und umgekehrt) bestellend, das Steak mit der falschen Hand schneidend und die Gabel wie einen Hammer haltend — so müssen Sie sich die Besucher der edelsten Restaurants vorstellen (und erst recht der weniger edlen). Zuerst dachte ich, alle um mich herum seien Linkshänder, dann recherchierte ich: Tatsächlich soll man beim »American style« als Rechtshänder zwar mit dem Messer in der rechten Hand schneiden, dann aber die Gabel in die dominante Hand wechseln, und zwar bei jedem Bissen (wie kommt man drauf?). Vielen ist das natürlich zu anstrengend, und sie versuchen, mit der linken Hand zu schneiden; andere lassen das Messer ganz weg. Als ich mal eine Bekannte auf ihrer Grillparty um ein Messer bat, fragte sie ernsthaft: »Wozu brauchst du für die Hähnchenbrust ein Messer?« – »Ich bleibe beim ›European style‹!«, dachte ich voller Verachtung, während ich mein Messer einen halben Inch in die Hühnerbrust rammte und sie dann mit 16,9 FL OZ Wein herunterspülte.

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