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Ab ins Jenseits!

Ein Antikriegs- und Liebesroman aus dem russischen Bürgerkrieg: »Das Tier aus dem Abgrund« von Jewgeni Tschirikow

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 5 Min.
Morgenstimmung am Schwarzen Meer: Das Naturschöne dient im Roman dazu, die »Vertierung« des Menschengeschlechts zu kontrastieren.
Morgenstimmung am Schwarzen Meer: Das Naturschöne dient im Roman dazu, die »Vertierung« des Menschengeschlechts zu kontrastieren.

Wer von Lenin persönlich vor der Verhaftung gewarnt und zum Verlassen des Landes aufgefordert wird, hat als Staatsbürger Glück gehabt. Und kann sich als Schriftsteller rühmen, wahrgenommen, ja unbequem geworden zu sein. Jewgeni Tschirikow hat das geschafft. 1920 verlässt er Rostow am Don, geht via Konstantinopel und Sofia nach Prag, wo er bis zu seinem Tod 1932 mit Frau und fünf Kindern lebt.

Tschirikow wurde 1864 auf dem russischen Land bei Samara geboren. Er studierte dann Jura und Mathematik und wurde zusammen mit Lenin 1887 von der Kasaner Universität zwangsexmatrikuliert und nach Nischni Nowgorod verbannt.

Nach dem Ende der Sowjetunion findet sein Werk erneut Beachtung. Sein epischer Roman über den russischen Bürgerkrieg (1918–1922) ist – 100 Jahre nach Erscheinen – im Elsinor Verlag, der sich auf Wiederentdeckungen spezialisiert hat, erstmals auf Deutsch zu haben.

Hauptfigur ist der Wladimir Paromow, der Oberleutnant der Weißen Armee ist. Im Roman zieht er resignativ folgende Bilanz: »Ich war bei den Weißen, dann bei den Roten, dann bei den Grünen, und jetzt weiß ich selbst nicht mehr, von welcher Farbe ich bin. Sag deinem Vater, ich bin bunt. Oder besser: grau. Wie ein Wolf. Und sag ihm auch, dass er den Wolf nicht angreifen soll, sonst frisst er ihn. Wenn man einen Wolf hetzt, wird er tollwütig …« Damit berührt der Held die zentrale, klassische Fragestellung dieses Romans: Was ist der Mensch? Was wird aus ihm im Fleischwolf des Bürgerkriegs zwischen Weiß- und Rotgardisten und Grünen? Die Grünen sind die Deserteure beider Lager, die sich in den Bergen der Krim zu marodierenden Banden zusammengeschlossen haben.

Nach einem Gefecht in der Steppe erwacht Wladimir schwer verwundet. Hinter einer Schneewehe stöhnt ein Feind, den er kaltblütig erschießt. Er wechselt seinen Offiziersmantel gegen den Schafspelz des ermordeten Rotarmisten, nimmt dessen Papiere an sich und reißt den roten Stern von der Soldatenmütze ab. Er denkt an Lada, seine Frau, die gemeinsame Tochter Eva, ihr Haus auf der Krim. In roter Camouflage gerät er in weiße Gefangenschaft, wird von den Roten im letzten Moment rausgehauen und begegnet im Lazarett der Krankenpflegerin Veronika, in die er sich verliebt. Eine fatale Neigung, weil sie sich bald als Verlobte seines Bruders Boris zu erkennen gibt. Der wiederum strandet in Begleitung von Lada auf der Flucht vor nachrückenden Rotgardisten in Noworossijsk, denen sie per Schiff entkommen.

Lada schläft mit Boris, hängt aber noch an Wladimir. In ihrem Elternhaus nahe Sewastopol schließt sie endlich Eva in die Arme. Wladimir wurde zwischenzeitlich für tot erklärt, kehrt aber schließlich nach Sewastopol zurück, kurz darauf folgt ihm Veronika. Gefährliche Liebschaften: Diese Konstellation, der schon zu friedlicheren Zeiten kein gutes Ende beschieden wäre, führt hier zum Bruderkrieg. »Das Tier aus dem Abgrund«, diese titelgebende, der Offenbarung Johannes’ entlehnte Metapher für das Böse, erhebt sich blutrünstig. Vom Quartett der miteinander verbandelten und verflochtenen Protagonisten bleibt lediglich Veronika lebend zurück. Vor dem Hintergrund der Eroberung der Krim durch Rotarmisten entlässt sie Tschirikow in ein mystisches Schlussbild: »Ganz in Schwarz, mit ihrem schönen, leiderfüllten Antlitz und dem Kind auf dem Arm, glich die einsam durch den Wald ziehende Frau dem Bild der trauernden Muttergottes.«

Tschirikow selbst versuchte, im Bürgerkrieg parteilos zu bleiben. Ein schier aussichtsloses Unterfangen, wie er an seinen Romanfiguren demonstriert. Er war tiefreligiös und sein Sprachduktus ist entsprechend geprägt. Seitenweise lodern Begriffe wie »Kainswerk«, »Gottes Wahrheit« oder »Feuer der Menschenliebe« auf. Für den heutigen Leser ist das gewiss gewöhnungsbedürftig. Gleichzeitig eignet diesem Roman aber die überbordende Liebe zum Detail, ein Hang zur impressionistischen Ausmalung des Alltags von großer atmosphärischer Dichte. Auch dem der kleinen Leute mit ihren Nöten, ihrer Verzweiflung: »Los, hinter den Lokus mit dem mitleidigen Pack, und ab ins Jenseits mit ihm.« Pardon wird nicht gegeben, Mitgefühl wird zum Verrat.

Es gibt großartige Naturbeschreibungen wie diese Morgenstimmung am Schwarzen Meer: »Die absolute, perlmuttene Windstille, wenn entlang der Küste auf der glatten Oberfläche der ruhigen See feine Spitzengewebe zu liegen schienen, wenn die Weite der See geschmolzenem Blei glich und ein fernes Segel dem Flügel eines großen weißen Vogels.« Das Naturschöne wird von Tschirikow stets als Kontrastmittel zur »Vertierung« des Menschengeschlechts eingesetzt.

Für ihn ist der Bürgerkrieg Schicksal, ein Kampf zwischen Gut und Böse; wobei aber beides verwischt und ununterscheidbar wird. Er fragt nicht nach der Vorgeschichte, blendet äußere Umstände wie das Eingreifen der Entente und der Mittelmächte aus. Krieg ist für ihn eine Blasphemie. Das ist eine Haltung, die ihn zu einem empfindsamen Autor macht, der herzzerreißende Szenen kreiert, in denen ungeahnte Schrecken und Gräuel drastisch bebildert sind. Insofern ist das Werk nicht nur von historischem Interesse, sondern lesenswerte Anklage gegen den Krieg und seinen Mechanismus der Verrohung, dem zu entrinnen keine Frage des guten Willens ist. Es konstituiert auf seine Art, was heute erneut vom Kriegsroman erwartet werden muss: die Absage an das Militärische ohne Wenn und Aber.

Jewgeni Tschirikow: Das Tier aus dem Abgrund. Poem der schrecklichen Jahre. A. d. Russ. v. Christine Hengevoß. Elsinor-Verlag, 408 S., geb., 36 €.

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