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WM in Ungarn: Die deutschen Leichtathleten enttäuschen

Nach dem WM-Debakel in Eugene im Vorjahr folgt der Scherbenhaufen von Budapest für die DLV-Athleten

  • Ewald Walker, Budapest
  • Lesedauer: 4 Min.
Schon in der Qualifikation gescheitert: Stabhochspringerin Anjuli Knäsche
Schon in der Qualifikation gescheitert: Stabhochspringerin Anjuli Knäsche

Die deutsche Leichtathletik erlebte in Budapest ein historisches Debakel. Brachte die WM vor einem Jahr in Eugene (USA) mit lediglich zwei Medaillen durch Malaika Mihambo und die 4x100-Meter-Staffel bereits ein schlechtes Ergebnis, so war Budapest ein einziges Debakel. Vor dem abschließenden Speerwurfwettbewerb am Sonntagabend mit Julian Weber als Kandidat fürs Podium (n. Red.) stand der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) ohne eine einzige Medaille da. Schlimmer geht’s nimmer.

Der DLV hatte ein 70-köpfiges Aufgebot nach Budapest geschickt. Gewiss, es fehlten insgesamt acht Leistungsträger, darunter Malaika Mihambo, Johannes Vetter, Konstanze Klosterhalfen und Lea Meyer, es enttäuschten wieder zahlreiche Athleten und erreichten den Anspruch einer WM nicht. Stellvertretend seien hier die Stabhochspringer Anjuli Knäsche (4,35 Meter) und Gilian Ladwig (5,35 Meter) und der 200-Meter-Sprinter Joshua Hartmann genannt. Statt den Durchbruch unter 20 Sekunden zu schaffen – bei der DM in Kassel war er in 20,02 Sekunden knapp gescheitert –, verbummelte er sein Finish und schied mit 20,51 Sekunden sang und klanglos aus. »In 20 Sekunden vom Hero zum Zero«, schrieb eine vielfache Deutsche Meisterin dazu.

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Auf den DLV übertragen heißt dies: in den neun Tagen von Budapest von der einstigen Leichtathletikmacht zum Zwerg geschrumpft. Da tauchen scheinbare Underdogs wie Burkina Faso, Peru oder die Britischen Jungferninseln vor dem DLV im Medaillenspiegel auf. Ehemalige Athleten, Trainer und Leichtathletikfans sind sprachlos und enttäuscht ob dieser Entwicklung.

DLV-Präsident Jürgen Kessing sucht vorsichtig nach Erklärungen. »Wir sind gegenüber vielen anderen Ländern deutlich im Hintertreffen«, sagt Kessing. Der Sport habe in Deutschland nicht mehr den Stellenwert wie früher. »Wir müssen mit klaren Konzepten an der Basis beim Schulsport ansetzen«, sagt Kessing weiter.

Isabelle Baumann, Bundestrainerin im Laufbereich und Ehefrau von Olympiasieger Dieter Baumann, geht in ihrer Analyse tiefer und findet Gründe im gesellschaftlichen Bereich. »Wir haben ganz klar ein gesellschaftliches Problem mit Leistung beziehungsweise Leistungssport und wir müssen da tatsächlich im schulischen Sektor ansetzen. Die Ausbildung zum Sportlehrer hat an Stellenwert verloren, sie hat den Leistungsgedanken oftmals aufgegeben«, sagte die 60-jährige Sportlehrerin und ehemalige österreichische Mittelstrecklerin. »Es ist schwierig, den hohen Leistungsanspruch hier weiter zu vertreten.«

Für viele kaum begreiflich: Der DLV steht im Ranking der Verbände, was die Bewertung der Leistungsförderung und deren strukturellen Voraussetzungen anbelangt, auf Rang eins im Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB). Die Ergebnisse von Eugene und Budapest widersprechen dem. Offensichtlich wurde auch das Sommermärchen 2022 bei der EM in München mit 16 Medaillen überbewertet. Eine EM mit 49 Ländern und eine WM mit 202 Nationen sind verschiedene Welten.

Die Tatsache, dass Athleten wie der Zehnkämpfer Leo Neugebauer mit Sportstipendien in die USA gehen und dort mit besten Bedingungen für Studium und Leistungssport Weltklasse werden, offenbart Schwächen in der Leistungsförderung hierzulande.

Welche Konsequenzen muss es nach dem Scherbenhaufen von Budapest geben? Es wird immer von strukturellen Änderungen geredet, es wird Zeit, dass diese in der Praxis stattfinden. Es müssen aber auch personelle Konsequenzen gezogen werden. Die Leichtathletikfamilie fordert Köpfe in der Spitze des Verbands. Ob DLV-Präsident Jürgen Kessing den Willen und die Durchsetzungskraft dazu hat, bleibt abzuwarten.

Die positiven Beispiele aus deutscher Sicht: Geher Christopher Linke wurde mit zwei deutschen Rekorden zweimal Fünfter, Tobias Potye scheiterte nur durch einen Fehlversuch mehr an Bronze, Hindernisläuferin Olivia Gürth rannte mit persönlicher Bestleistung ins Finale.

»Diese WM in Budapest war eine der besten in der 40-jährigen Geschichte der Weltmeisterschaften«, bilanziert World-Athletics-Präsident Sebastian Coe. Über 300 000 begeisterte Zuschauer, fast »magische Stimmung«, wie es Leo Neugebauer beschreibt, ein fachkundiges und faires Publikum haben ein neues Sommermärchen geschrieben. Ungarn ist moderner und freundlicher geworden, trotz Viktor Orbán. Der Medaillenkuchen wird in immer kleinere Stücke für immer mehr Länder aufgeteilt. Die Leichtathletik ist noch weltumspannender geworden.

Die Stars dieser WM: die Sprintkönige Noah Lyles (dreimal Gold) und Sha’Carri Richardson (zwei Titel, beide USA), Faith Kipyegon (Kenia) als »schwebende« Läuferin und der schwedische Stabhochspringer Armand Duplantis als König der Lüfte.

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