Altberliner Lieder: Peter Schultze, der Hüter der Gassenhauer

Peter Schultze ist einer der letzten Musiker, die noch Altberliner Lieder singen

  • Dirk Engelhardt
  • Lesedauer: 5 Min.
Im Wintergarten des Central-Hotels in der Friedrichstraße traten Künstler wie Otto Reutter auf.
Im Wintergarten des Central-Hotels in der Friedrichstraße traten Künstler wie Otto Reutter auf.

»Berliner Luft«, »Siehste woll, da kimmt er«, »In Rixdorf ist Musike«: alte Berliner Lieder, manche von ihnen 130 Jahre alt, hört man heute kaum noch. Peter Schultze aus Pankow ist einer der wenigen Musiker, die noch Berliner Gassenhauer mit Gesang und Bandoneon zum Besten geben. Das Bandoneon, das die meisten mit südamerikanischer Musik verbinden, ist ein deutsches Musikinstrument und wurde Anfang des 19. Jahrhunderts in Chemnitz erfunden. Das Akkordeon, das viel später auf den Markt kam, ist ähnlich, aber einfacher zu spielen. Im letzten Jahr spielte Schultze mit seinem Kollegen Karl-Heinz Lemmer in Frankfurt an der Oder. »Da kamen auch relativ viele junge Leute, die diese Musik augenscheinlich interessiert«, erzählt Schultze und begegnet damit dem Vorurteil, dass solche Lieder nur für Senioren seien.

Der 76-Jährige selbst kam zu den Berliner Liedern durch die Hausmusik, die ein fester Bestandteil des Lebens im Haus seiner Eltern war. Die Mutter spielte Klavier und die Kinder machten mit beim »Rundgesang«, bei dem sich jeder ein Lied wünschen durfte. In der Vorweihnachtszeit waren es Weihnachtslieder, ansonsten Volkslieder oder Berliner Lieder. Noten gab es dazu nicht, es wurde praktisch alles auswendig gesungen. Schultze erinnert sich noch an Weihnachtslieder, die bis zu 15 Strophen hatten. Solche Hausmusik findet heute in ganz wenigen Familien statt, und das ist auch ein Grund, warum heutige Kinder keine Berliner Lieder mehr singen.

Mit 16, 17 Jahren hatte Schultze dann allerdings andere Musik im Kopf, da kamen die Beatles und Rockmusik. Dann kam der Mauerfall, und Schultze gab seine alten Berliner Lieder in Kreuzberg in der Künstlerszene zum Besten. »In der Kreuzberger Szene kam das ganz toll an, die kannten solche Lieder nur wenig und waren begeistert, vor allem von meiner Berliner Schnauze«, erinnert sich Schultze. Das ging eine Weile so, Schultze trat in Kneipen, Galerien und Kulturzentren auf; doch irgendwann ebbte diese Welle dann ab.

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Schultze ist kein Berufsmusiker. Nach dem Abitur in Pankow studierte er Mathematik und arbeitete dann als Programmierer. Um mehr Zeit für seine Musik zu haben, nahm er einen sogenannten SV-Job an. Das sagte man in der DDR zu Jobs, die man im Wesentlichen ausübte, um in der Sozialversicherung zu sein. Schultzes SV-Job war Nachtpförtner, dreimal pro Woche. So konnte er als freiberuflicher Musiker für verschiedene Theater in Ostdeutschland arbeiten.

Der RBB mit seinen Radioprogrammen spielt ebenfalls keine Altberliner Musik. Das würde die Hörer nicht interessieren, heißt es von Seiten des Senders. Und folgerichtig interessiert sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk auch nicht für die Musik von Schultze, von dort kam keine einzige Anfrage. Das war beim Rias noch anders, dort gab es die legendäre Sendereihe »Damals wars – Geschichten aus dem alten Berlin«, in der Geschichten von den Sorgen und Nöten aus dem alten Berlin erzählt wurden, mitsamt der frechen Schnauze und dem berühmten Berliner Humor.

Der Gassenhauer entstand, wie der Name schon andeutet, auf der Gasse. Es waren keine organisierten Arbeiterlieder, weniger politische Statements, sondern eher satirische Seitenhiebe und zeitkritische Streiflichter. Da wurden aufsässige Verse gegen die Monarchie getextet, unter anderem ein Lied vom Attentat auf das preußische Königspaar 1844. Die Polizei verbot damals das Singen und sogar das Pfeifen des majestätsbeleidigenden Gassenhauers. Doch nichtsdestotrotz verbreitete er sich in Windeseile.

Straßenmusiker waren damals schon in großer Zahl anzutreffen, ausgebildete Musiker waren sie meist nicht. Dafür aber umso bissiger, was die Texte betraf. Die vielen Neuberliner, die Anfang des 20. Jahrhunderts in die rasant wachsende Großstadt strömten, vergnügten sich abends in den ebenso rasant vermehrenden Vergnügungsstätten. Herauszuheben wäre der Wintergarten, damals an der Friedrichstraße und das Linden Cabaret Unter den Linden. Und natürlich die Lachbühne am Weinbergsweg, wo sich Musiker wie Otto Reutter, Claire Waldoff und Erich Carow die Klinke in die Hand gaben. Die Texte dieser Gassenhauer waren in aller Munde, wie »Nehm’n Se’n Alten« von Otto Reutter. Der geht so: »Die Statistik zeigt’s dem Kenner / Es gibt mehr Frauen als wie Männer / Darum rat ich allen Frau’n / Sich beizeiten umzuschau’n / Doch bitte sich begnügen / Es kann nicht jede ’n schönsten kriegen / Schau’n se nicht so wählerisch / Nur nach dem, der jung und frisch ...« Der Publikumsliebling in der Lachbühne war Fredy Sieg, der Archetyp des Berliner Volkssängers, der mit seiner Beschreibung der »Hochzeit bei Zickenschulze« noch heute für den einen oder anderen Lacher sorgt. Das Lied vom Zickenschulze ist natürlich auch aus dem Repertoire von Peter Schultze nicht wegzudenken.

Besonders gefallen ihm die Lieder von Claire Waldoff. Sie sang in den 30er Jahren bei den Kommunisten und musste Berlin dann verlassen, als die Nazis an die Macht kamen. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte sie noch ein Comeback, aber sie schaffte es nicht mehr, die Berliner zu begeistern. Otto Reutter, Schultzes anderes großes Vorbild, starb schon 1931 mit 61 Jahren. Reutter wurde 1899 im Berliner Wintergarten verpflichtet, was damals für Künstler einem Ritterschlag gleichkam. Der Wintergarten im Central-Hotel war damals eine riesige glasüberwölbte Halle von 2300 Quadratmetern, in der Palmen, Schlingpflanzen und Lorbeerbäume wuchsen. Beworben wurde der Saal als »vornehmstes Etablissement« Berlins, in dem nur »Künstler allerersten Ranges« auftraten. Die dann manchmal auch in der Folge Engagements in Amerika erhielten.

Eine große Verbreitung erhielten die Gassenhauer natürlich auch von den berühmt-berüchtigten Leierkastenmännern, von denen es heute nur noch sehr wenige gibt. Die Leierkastenmänner, oft Kriegsinvaliden, verfügten allerdings nur über ein kleines Repertoire und wurden von manchen Bürgern eher als Landplage betrachtet.

In letzter Zeit tritt Schultze meist zu privaten Anlässen auf. Beim Rudolstadt-Festival in Thüringen hatte er auch einen Auftritt. »Ich war angenehm überrascht, dass der Saal bis zum letzten Platz gefüllt und der Applaus recht lang war«, erzählt Schultze sichtlich angetan. Das hatte er nicht erwartet.

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