Wirtschaftskriminalität: Falsche Chefs wieder in Mode

Die Wirtschaftsdelikte haben in Deutschland um über 40 Prozent zugelegt.

  • Hermannus Pfeiffer, Hamburg
  • Lesedauer: 3 Min.

Der Kupferkonzern Aurubis ist Opfer einer der größten Betrügereien in der deutschen Industriegeschichte. Womöglich jahrelang konnten betriebswirtschaftlich hochgerüstete Verbrecher ihren dunklen Geschäften im Stammwerk auf der Peute nachgehen, einer zum Stadtteil Veddel gehörenden Hamburger Binneninsel mit Industriegebiet, ohne dass es der Geschäftsleitung auffiel. Eine außerordentliche Inventur ergab in dieser Woche einen Schaden von 185 Millionen Euro allein in diesem Geschäftsjahr. »Wir sind offensichtlich das erste Ziel für eine neue Form von Kriminalität geworden, die so in der Vergangenheit nicht bekannt war«, sagte Konzernchef Roland Harings.

Neue Formen der organisierten Kriminalität beobachten auch Versicherer. Am Mittwoch stellte der Marktführer im weltweiten Industrieversicherungsgeschäft, Allianz Trade, in einem Pressegespräch »neue Technologien und Betrugshorizonte in der Wirtschaftskriminalität« vor. Mit deutlich besserer Technik griffen die Täter auf bewährte Maschen zurück, sagte Rüdiger Kirsch, Betrugsexperte bei Allianz Trade.

Betrug durch »Social Engineering«

73 144 Wirtschaftsdelikte verzeichnete das Bundeskriminalamt im vergangenen Jahr, ein Plus von 42,6 Prozent gegenüber 2021. Insbesondere »Social Engineering«, also Betrugsmaschen, bei denen die Täter Menschen etwa mit Hilfegesuchen oder mit gefälschten Schreiben des Chefs dazu verleiten, Überweisungen zu tätigen, nimmt demnach zwar schon seit längerem zu, im vergangenen Jahr geschah dies aber rasant. Arbeiten im Homeoffice trägt dazu bei. Kirsch sagte: »Dieser Trend setzt sich auch 2023 im bisherigen Jahresverlauf fort.« Insbesondere Zahlungsbetrug, also das Umleiten von Geldströmen, erfreue sich bei kriminellen »Menschen-Hackern« wachsender Beliebtheit. »Sie machen sich dabei den stetigen technischen Fortschritt zunutze.«

Dieser hat auch zu einem Revival des »Fake President«-Betrugs geführt. Die Schadensstatistik von Allianz Trade verbucht für 2022 einen Zuwachs der Schadenshöhe durch »die falschen Chefs« von 38 Prozent. Künstliche Intelligenz (KI) spielt in der Schadensstatistik noch keine Rolle, wird nach Meinung von Kirsch aber zukünftig »zu einem Riesentreiber der Kriminalität«. KI-Anwendungen eröffneten Kriminellen ganz neue Betrugshorizonte: »Mussten sie zuvor noch relativ mühsam die notwendigen Informationen zusammensuchen, etwa durch Ausspähen des Intranets, in sozialen Netzwerken oder durch Vishing-Anrufe (zum Abfischen von Daten, d. Red.) an unterschiedlichsten Stellen im Unternehmen, so findet mit ChatGPT eine deutliche Optimierung statt.« Mitarbeiterbriefe, Intranet-Inhalte oder E-Mail-Korrespondenzen könnten leicht hochgeladen werden, und das System spucke anschließend eine E-Mail mit einer gefälschten Zahlungsaufforderung im »CEO-Style« aus – CEO ist die englische Bezeichnung für einen Unternehmenschef. Das hebe die Authentizität der Korrespondenz auf ein ganz neues Level und damit auch die Chancen, dass falsche Chefs erfolgreich seien, so Kirsch.

Kooperation mit »Innentätern«

In vielen Fällen kooperierten externe Betrüger mit »Innentätern«, sagte der Leipziger Rechtsprofessor Hendrik Schneider. Diese stellten mehr als die Hälfte aller Täter. »Die höchsten Schäden richten gut ausgebildete männliche Führungskräfte, etwa Mitte 40, an, die seit mindestens zehn Jahren im Unternehmen sind.« Auch hier zeigt der Trend nach oben. In den vergangenen Monaten hat Allianz Trade diverse Großschäden beobachtet: Mindestens zweistellige Millionenschäden gab es in Deutschland bei einer Versicherung, einer Bank, in der Telekommunikation, einer Fluggesellschaft und mehreren Metallbetrieben.

Auch bei Aurubis haben wohl Innentäter eine entscheidende Rolle gespielt. Durch manipulierte Proben sollen sich Lieferanten von Recyclingmaterial eine überhöhte Auszahlung verschafft haben. Der Konzern verarbeitet etwa eine Million Tonnen Recycling-Schrott pro Jahr.

Aurubis-Chef Harings kann bislang nicht erklären, wie es zu den Anfang September aufgeflogenen Betrügereien von gewaltigem Ausmaß gekommen ist. Das sollen Ermittlungen des Landeskriminalamts schaffen. Wie bei einem anderen Fall: Kurz vorher war durch eine Großrazzia der Polizei auch ein klassischer Diebstahl von Edelmetall bekannt geworden. Dessen Schadenshöhe ist bislang unbekannt.

App »nd.Digital«

In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal