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Willkür und Widerstand in Mexiko

Die Angehörigen der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa beharren auf Aufklärung

  • Moritz Osswald, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 4 Min.

In der Nacht vom 26. auf den 27. September jähren sich Staatsverbrechen und Straflosigkeit in Mexiko. Es ist der neunte Jahrestag des Verschwindens von 43 Lehramtsstudenten im Bundesstaat Guerrero. Das Datum erinnert an Straflosigkeit, an Kooperation von Staat und Kriminellen, die Behinderung der Justiz. Fast ein Jahrzehnt nachdem die Studenten verschleppt und getötet wurden, ist der Ablauf der Ereignisse immer noch nicht abschließend geklärt. Nur drei der 43 Verschwundenen konnten bislang identifiziert werden. Das Verschwinden der 43 aus Ayotzinapa ist zum doppelten Symbol geworden – zum einen für die Willkür staatlicher Stellen, allen voran der Streitkräfte. Die in Mexiko allgegenwärtige Straflosigkeit konnte im Fall Ayotzinapa auch trotz internationaler Einmischung kaum unterbunden werden. Doch die Zahl 43 verwandelte sich auch in ein Symbol des Widerstands, des unermüdlichen Kampfes gegen Ungerechtigkeit.

Mittlerweile ist es zur Tradition geworden, dass die Angehörigen der Opfer und deren Sympathisant*innen jedes Jahr zum Gedenken nach Mexiko-Stadt reisen. So auch dieses Jahr. Eine Mahnwache vor den Toren des Militärgeländes Campo Militar 1 lenkt die Aufmerksamkeit auf die Forderungen der Mütter und Väter. Die harren dort seit dem vergangenen Donnerstag aus – und wollen eventuell so lange bleiben, bis ihren Forderungen entgegengekommen wird.

Einigen lokalen Medienberichten zufolge werde die Mahnwache bis zum Gedenktag selbst anhalten, doch die Zeitung »Milenio« zitiert Melitón Ortega, Sprecher der Väter und Mütter der Verschwundenen: »Das wird auf unbestimmte Zeit sein; es wird von den Behörden abhängen, ob sie die erforderlichen Informationen herausgeben werden oder nicht. Wir sind hierhergekommen, um friedlich zu protestieren und die Herausgabe der fehlenden Dokumente zu fordern«, so Ortega. Die Angehörigen fordern die Streitkräfte auf, geheim gehaltene Dokumente freizugeben, um von der Rolle des Militärs ein klareres Bild zu zeichnen. Diesen Montag ist ein Treffen mit Vertreter*innen des Innenministeriums (Segob) geplant.

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Die Rolle des Militärs im Fall der 43 Studenten ist zentral. Das wollte der Staat, damals unter Ex-Präsident Enrique Peña Nieto, um jeden Preis vertuschen. Daher mussten großflächig Nebelkerzen geworfen werden. Jesús Murillo Karam, damaliger Generalstaatsanwalt, verkündete bereits im Januar 2015 – wenige Monate nach den Geschehnissen – die sogenannte historische Wahrheit. Sie besagt, dass die 43 Studenten des Lehramtsseminars »Raúl Isidro Burgos« in Ayotzinapa von der kriminellen Gruppe »Guerreros Unidos« verschleppt, getötet, auf einer Müllkippe verbrannt und in einen Fluss geworfen worden seien. Die Bandenmitglieder seien davon ausgegangen, es handele sich um Mitglieder der verfeindeten Gruppierung »Los Rojos«. Murillo Karam ist seit August 2022 in Haft.

Die exilierte Investigativjournalistin und Deutsche-Welle-Kolumnistin Anabel Hernández nennt diese Deutung der Ereignisse die »historische Lüge«. In ihrem Buch »Die wahre Nacht von Iguala« beschreibt sie anhand umfangreicher Recherchen, wie Staatsanwaltschaft, Polizei, Militär und Marine zusammenarbeiteten, um Beweise zu vertuschen und falsche Zeugenaussagen durch Folter zu erzwingen. Sie taten alles, um möglichst schnell Schuldige zu präsentieren.

In ihrem Enthüllungswerk schreibt Hernández, was Jahre später durch die Interdisziplinäre Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) bestätigt werden sollte: Das Kommandokontrollzentrum C4, das militärische und polizeiliche Ressourcen bündelt, wusste zu jeder Zeit über den genauen Standort der Studenten Bescheid. Die GIEI war für viele die große Hoffnung auf Gerechtigkeit und Wahrheitsfindung. Am 31. Juli dieses Jahres beendete die Kommission nach über acht Jahren ihre Arbeit. Steter Begleiter der Expertengruppe war die Beeinträchtigung ihres Schaffens aufgrund des fehlenden Zugangs zu relevanten Dokumenten.

Die aktuelle Administration unter Präsident Andrés Manuel López Obrador erkannte die Geschehnisse rund um die 43 offiziell als Staatsverbrechen an. Eines seiner Versprechen im Hinblick auf Justiz war die lückenlose Aufklärung des Falls unter seinem Mandat. Warme Worte und Dutzende Festnahmen waren zwar medienwirksam. Doch relevante Akteur*innen sind noch auf freiem Fuß. López Obrador beteuert, alle relevanten Dokumente der Streitkräfte seien bereits ausgehändigt worden. Er verteidigt das Militär. Aktivist*innen und Angehörige sehen das anders. Vidulfo Rosales, Anwalt der Eltern, erzählt im Interview mit dem Online-Sender Rompeviento TV, wie Dokumente beweisen, dass das mexikanische Militär verdeckte Agenten in dem Lehramtsseminar Raúl Isidro Burgos im Einsatz hatte. Besonders absurd: Einer der verschwundenen 43 sei ein verdeckt operierender Agent gewesen.

Im Fall Ayotzinapa kommen nur häppchenweise neue Informationen ans Tageslicht. Vieles ist weiterhin unklar. Der Staat behindert die vollständige Aufklärung des Falls. Besonders die Rolle des 27. Infanteriebataillons ist unklar. Mittlerweile ist bekannt, dass dessen Kommandant José Rodríguez Pérez sechs der 43 jungen Männer über vier Tage gefangen hielt, bis er einer kriminellen Gruppierung deren Hinrichtung sowie Verschleppung anordnete. Seit rund einem Jahr sitzt er in Untersuchungshaft.

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