Gewerkschaften in Großbritannien: Zurück zur Basis

In britischen Gewerkschaften formiert sich eine Bewegung von unten

  • Peter Stäuber
  • Lesedauer: 4 Min.

Jedes Mal, wenn sich die Konservativen in Großbritannien im Herbst zu ihrer Jahreskonferenz treffen, versammeln sich auch Regierungsgegner*innen zu einem Gegenprotest. Dabei handelt es sich um ein Routineevent, weshalb der Veranstaltung in der landesweiten Presse üblicherweise wenig Beachtung geschenkt wird. Allerdings dürften die Proteste in diesem Jahr für mehr Schlagzeilen sorgen: Wenn Premierminister Rishi Sunak am Mittwoch im Konferenzzentrum von Manchester vor seinen Parteikolleg*innen auftritt und der Protestzug durch die Straßen zieht, streiken gleichzeitig die Zugführer*innen im ganzen Land, ebenso haben die Ärzte die Arbeit niedergelegt. Ein angekündigter Streik der U-Bahnangestellten wurde kurzfristig wieder abgesagt.

Der landesweite Streik der Bahnarbeiter*innen am Mittwoch erinnert daran, dass die Arbeitskämpfe der vergangenen Monate in Großbritannien nicht beigelegt sind, obwohl die Streikwelle zuletzt etwas abgeflacht ist. Viele Gewerkschaften, insbesondere im öffentlichen Dienst, hatten den angebotenen Lohnerhöhungen zugestimmt, wobei die Erfolge eher mager ausfielen: Die erstrittenen Erhöhungen, etwa in der Pflege oder an Schulen, belaufen sich auf fünf bis sieben Prozent. Angesichts der höheren Inflation bedeutet das jedoch einen Reallohnverlust.

Gleichzeitig gehen die Streiks in anderen Branchen weiter und gewinnen an Intensität. So treten die Bahnangestellten seit über einem Jahr immer wieder in den Streik, um die Betreibergesellschaften zu Lohnerhöhungen und Arbeitsplatzgarantien zu bewegen. Und sie zeigen keine Ermüdungserscheinungen. Die Eisenbahngewerkschaft RMT und die Gewerkschaft der Zugführer*innen Aslef schalten vielmehr einen Gang höher, indem sie ihre Streiks an diesem Mittwoch zusammenlegen, um eine größere Wirkung zu erzielen.

Ähnliches lässt sich auch beim Gesundheitspersonal beobachten, wo es ebenfalls verstärkt zu Kooperationen unter den Berufsgruppen kommt. Die Assistenzärzt*innen, die eine Lohnerhöhung von 35 Prozent fordern, haben in den vergangenen Wochen zum ersten Mal zusammen mit den Fachärzt*innen, also ihren Vorgesetzten, die Arbeit niedergelegt.

Dies ist Teil eines größeren Trends innerhalb der Gewerkschaftsbewegung: Übergreifende Zusammenarbeit, Vernetzung und Solidarität werden immer wichtiger. Bestes Beispiel ist der »Arbeiter*innen-Gipfel«, der Mitte September in London stattfand. Mehrere Hundert Lehrer*innen, Müllarbeiter*innen, Ärzt*innen, Pfleger*innen, Zivilbeamte und Universitätsdozent*innen kamen zusammen, um Strategien zu besprechen und sich auszutauschen – auf eigene Faust und unabhängig von ihrer jeweiligen Gewerkschaftsführung. Allein diese Tatsache ist bemerkenswert: Noch vor einem Jahr wäre ein solcher Basis-Kongress undenkbar gewesen.

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Allerdings war am Gipfel auch eine gute Portion Frust zu spüren. Der Ärger richtet sich vorrangig gegen die Gewerkschaftsspitze: Diese hätte die Bereitschaft ihrer Mitglieder, für bessere Deals zu kämpfen, unterschätzt. Die Sprecher*innen auf dem Podium berichteten von der Begeisterung, die die Streiks unter den Arbeiter*innen ausgelöst hatten. »Unsere Streikdemonstrationen waren die größten, die wir je erlebt haben«, rief Carly Slingsby auf dem Gipfel ins Mikrofon. Die 36-jährige Grundschullehrerin ist Mitglied der Lehrer*innengewerkschaft National Education Union (NEU). »Unsere Mitglieder mussten keine Anweisungen von oben entgegennehmen. Sie haben sich auf eigene Initiative an ihren Arbeitsplätzen organisiert und andere Gewerkschaften kontaktiert, um Spendenaktionen zu planen.«

Schon kurz nach Beginn der Streiks im vergangenen Februar stellten sich erste Erfolge ein: Während die Regierung zunächst eine Lohnerhöhung von mehr als 3,5 Prozent für die Lehrer*innen ausgeschlossen hatte, kam im März das Angebot von 4,3 Prozent. Die Gewerkschafter*innen lehnten es mit einer deutlichen Mehrheit ab. »Wir sind zu unseren Streikposten zurückgegangen und haben die Regierung zu einem besseren Angebot gezwungen. Sie haben uns dann 6,5 Prozent angeboten«, sagte Slingsby in London. Diesmal empfahl die NEU-Führung den Mitgliedern, das Angebot anzunehmen – was Slingsby bis heute für einen Fehler hält. »Wir wussten, dass die Streiks Wirkung gezeigt hatten. Warum zweifelten unsere Vorsitzenden daran, dass wir die Regierung erneut unter Zugzwang setzen könnten?«

Slingsby ist sich sicher, dass sie und ihre Kolleg*innen noch einen langen Atem gehabt hätten und die Gewerkschaft einen besseren Deal hätte aushandeln können. Sie hat für sich eine Lehre aus dieser Streikwelle gezogen: »Eine unserer Schwächen war, dass wir Basisaktivisten zu viel Vertrauen in die Gewerkschaftsführung hatten«, erklärte sie nach der Konferenz. Überhaupt seien es die Aktivist*innen gewesen – in Großbritannien werden sie als »Rank and File« bezeichnet –, die während des Arbeitskampfes Druck auf die Führung ausgeübt hatten, damit diese nicht einknickt gegenüber der Regierung.

Inzwischen organisieren und vernetzen sich Basismitglieder in fast allen Gewerkschaften. Während der Streiks wurden Tausende Mitglieder zum ersten Mal aktiv und viele wollen sich auch dauerhaft als Vertreter*innen an ihren Arbeitsplätzen oder im lokalen Ableger ihrer Gewerkschaft engagieren. Es lassen sich Anfänge einer Basisbewegung in den Organisationen erkennen. »Darauf können wir aufbauen, und darum bin ich sehr hoffnungsvoll«, sagte Slingsby.

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