Konflikt im Nahen Osten: Linke Illusionen sind zerschellt

Dass die Hamas keine edle Menschenrechtsorganisation ist, konnte man schon längst wissen, meint Leo Fischer

  • Leo Fischer
  • Lesedauer: 3 Min.

In den Reaktionen einiger linker Gruppen auf die Massaker der Hamas in Israel gibt es Muster, die man von Russlands Krieg gegen die Ukraine kennt. Eine seltsame Ernüchterung macht sich breit, als erwache man aus einem langen Traumschlaf. Die alten Erklärungsmuster funktionieren nicht mehr, das klar geordnete Weltbild zerschellt an den Klippen der Realität. Die Projektion, in Gaza seien edle Widerstandskämpfer*innen am Werk, die im Grunde nur Frieden wollen, ist angesichts der Bilder, die uns erreichen, nicht zu halten. Die Hamas ist keine NGO und keine Menschenrechtsorganisation. Wer das wissen wollte, konnte es immer schon wissen; das gefühlte Wissen war aber für viele ein anderes.

Ähnlich war es zu Beginn des Ukraine-Kriegs, der ebenfalls viele Linke überrumpelt hatte, die es hätten besser wissen müssen. Der Mord an Anna Politkowskaja, der Hass auf Schwule, die Lage in Tschetschenien, die imperialen Interventionen der Nullerjahre – all das wusste man über Russland und wusste es gleichzeitig nicht. Für viele Bauchlinke war Russland keineswegs der militärische und wirtschaftliche Gigant, dessen Nachbarn in latenter Furcht leben, sondern ein liebenswert-behäbiges postsowjetisches Relikt, das sich mit Mühe des eiskalten US-Imperialismus erwehrt.

Leo Fischer

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge und entsorgt den liegen gelassenen Politikmüll. Alle Texte auf dasnd.de/vernunft.

Bei dieser Art Irrtümer gibt es eine bemerkenswerte Einigkeit zwischen den Generationen: Altlinke, die sich immer noch in den 80ern wähnen und Putins klerikal-neozaristisches Russland mit Sozialismus verwechseln; Junglinke, die sich in dem einen Tiktok-Video berechtigt über Mikro-Aggressionen beschweren und im nächsten die antisemitische Makroaggression der Hamas als Freiheitskampf bejubeln.

Diejenigen, die ihre Illusionen einsehen, stehen bestenfalls als Genasführte da; diejenigen, die nicht aus ihren Illusionen erwachen, leben in einer Parallelwelt: Dieselben Leute, die uns einreden wollten, dass »Intifada« ausschließlich als Befreiung und »From the river to the sea« (Vom Fluss ins Meer) nicht eliminatorisch gegen Juden gemeint sei, Zionismus hingegen als das absolut Böse kennzeichneten, begrüßen jetzt die Massaker wahlweise als Befreiung oder als verständliches Ventilieren von Verzweiflung. Doch gleich, was für eine Welt Putin oder Hamas bauen wollen: Es ist keine, in der Linke einen Platz hätten.

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Vielleicht erklärt es sich aus dem rasanten Machtverlust der Linken, dass manche ihre Hoffnung auf alles Mögliche richten: Sie setzen sich auf die Schultern von Massenmördern, um bedrohlicher zu wirken. Es erklärt sich auch aus dem Radikalisierungstheater eines Online-Politzirkus, in dem sich kompetierende »Aktivist*innen« durch immer radikalere Positionen voneinander abgrenzen – und ihr Publikum als schwach und »uneducated« schmähen, wenn es vor den brutalsten Forderungen zurückschreckt. Nicht zu vergessen der fast manichäische USA-Hass, der bei vielen (auch US-Linken) das Denken ersetzt: Schlicht alles, was den Staaten schadet, ist demnach gut. Da ließe sich auch der Klimawandel bejubeln: Eine verkochte Ökosphäre wäre immerhin eine ohne den verhassten Westen!

Die beste Erklärung ist jedoch sicherlich der unauslöschliche Wunsch, unbedingt irgendwo die Guten verorten zu wollen. Gleich, wie widerspruchsvoll ein Konflikt ist: Irgendwo gibt es doch sicher die moralisch Lauteren, denen ich unbesorgt zujubeln kann! Endlich auf der richtigen Seite stehen, das wär’s! Viel wäre schon gewonnen, wenn den Leuten das Bedürfnis zum Jubel ausgetrieben werden könnte.

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