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»Tori und Lokita« im Kino: Die Wahlverwandten

In ihrem Spielfilm »Tori und Lokita« werden die Brüder Dardenne sehr böse

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Tori (Pablo Schils) und Lokita (Joely Mbundu) haben sich auf der Flucht kennengelernt. Sie lassen einander nicht mehr los, weil sie nur so eine Chance zum Überleben haben.
Tori (Pablo Schils) und Lokita (Joely Mbundu) haben sich auf der Flucht kennengelernt. Sie lassen einander nicht mehr los, weil sie nur so eine Chance zum Überleben haben.

Das Kino der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne handelt von der Unsolidarität. Seit ihrem Spielfilm »Das Versprechen« (1996) zeigen sie, wie Unterdrückte andere Unterdrückte – ob aus Zwang, Stumpfheit oder Gier – verraten und verkaufen. So zertrümmern die Regisseure die Illusion, wer Not leidet, müsste die der andern spüren können und sie deshalb lindern wollen.

Von »Der Sohn« (2002) einmal abgesehen, folgen alle ihre Filme diesem Muster, auch der jüngste, »Tori und Lokita«, obwohl er manchmal die solidarische mit der unsolidarischen Geste abwiegt: Als der kleine Tori (Pablo Schils) für eine Überweisung nach Afrika die Unterschrift eines Erwachsenen braucht, wiegelt ihn ein afrikanischer Herr ab, während ein anderer einwilligt. Als unsolidarisch mit ihm und dem Mädchen Lokita (Joely Mbundu), den beiden Flüchtlingskindern, erweisen sich nicht nur die Europäische Union, der belgische Staat, ein Schleuser und die Familien der beiden, sondern auch der Dealer, der sie Drogen verkaufen lässt und Lokita zu sexuellen Diensten zwingt. Dieser Dealer (Alban Ukaj) ist kein fetter Pate, sondern arbeitet als Koch. Während er in seiner stickigen Küche den Kindern Befehle erteilt, hageln auf ihn selbst Befehle ein. »Wo bleiben die Schnitzel für Tisch drei?« Ohne dass wir je erfahren, wie der fiese Koch wurde, was er ist, ahnen wir zumindest, dass er, wie es bei The Who (»Substitute«) heißt, mit einem »Plastiklöffel im Mund« auf die Welt kam.

Das Dardenne-Kino birgt also ein großes Risiko. Der Bürger könnte bei den Filmen denken: »Diese Armen, diese verlorenen Kinder und Migranten behandeln einander wie Dreck. Selbst wenn ich helfen wollte – sie haben es nicht verdient.« Deshalb drehen die Dardennes den Spieß um und richten ihn gegen das Publikum. Das geschieht gleich in der ersten Einstellung von »Tori und Lokita«.

Wir sehen uns Lokita gegenüber, die, um als Asylantin anerkannt zu werden, Fragen beantworten muss. Wann hat sie ihren angeblichen Bruder Tori zum ersten Mal gesehen? Wo war das genau? Wie heißt der See bei dem Dorf? Lokita, deren Gesicht uns groß anblickt, kann die Fragen nicht beantworten, sie zittert und bricht schließlich zusammen. Gefilmt wird mit der Handkamera (Benoît Dervaux), deshalb zittert auch das Bild leicht. Es ist also eine subjektive Einstellung und zugleich die objektivste, die denkbar ist. Denn dass die Befragerin, die einen Vorwand zur Abschiebung des Mädchens sucht, die ganze Zeit über nicht zu sehen ist, hat einen simplen Grund: Mit ihr sind wir gemeint.

Wir, die Zuschauerinnen und Zuschauer, haben nichts gegen das Mädchen, so wenig wie die Inquisitorin, die nur ihren Job macht, aber wenn der grüne Vizekanzler erklärt, er könne sich mit der CDU auf einen Asylkompromiss einigen, und die Innenministerin die Grenzen befestigt, stecken wir, ob wir es wollen oder nicht, mit drin. Denn um unseretwillen wird den Hilfesuchenden Gewalt angetan. Die Frage, ob Tori, der als »Hexenkind« verfolgt worden ist, wirklich Lokitas Bruder ist, ist leicht zu beantworten: Nein, das ist er nicht. Die beiden haben sich auf der Flucht kennengelernt. Sie lassen einander nicht mehr los, auch weil, wie Lokita sagt, sie nur so eine Chance zum Überleben haben.

Im italienischen Auffanglager haben die beiden ein Lied gelernt, das zum Leitmotiv wird, es kehrt unaufhörlich, etwa als Klingelton, wieder: »Alla fiera dell’est«. Das ist Angelo Branduardis populäre Version einer uralten jiddischen Weise, die zu Pessach gesungen wird: »Chad gadja«. Der Vater kauft auf dem Markt ein Lämmchen (bei Branduardi ist es eine Maus), das Lämmchen wird von der Katze, die Katze wiederum vom Hund gefressen und so weiter, bis am Ende Gott persönlich dem mörderischen Treiben ein Ende setzt. Dieser Schluss bleibt bei den Dardennes ausgespart. Bei ihnen frisst jeder jeden – und das Gegenprinzip zum Prinzip Friss-oder-werde-gefressen ist die Wahlverwandtschaft von Tori und Lokita. Wie schon in »Der Junge mit dem Fahrrad« (2011) und in »Zwei Tage, eine Nacht« (2014) formt in »Tori und Lokita« ein ungleiches Paar einen Nukleus der Solidarität.

Auch andere Motive früherer Filme kehren wieder: die Geldbündel, die in einer illegalen Ökonomie ihre Besitzer wechseln, die Kinderbande, Psychopharmaka. Lokita spricht, wenn sie allein ist, mit sich selbst – nicht wie die Heldin von »Rosetta« (1999), sondern wie die von »Lornas Schweigen« (2008), die sich an ihr Ungeborenes wendet. Lokita wendet sich an den abwesenden Tori, der bei ihr die Stelle von Kind, Geliebtem und Bruder einnimmt.

Mit Kindern haben die Dardennes stets Glück. Zu sehen, wie der elfjährige Darsteller des Tori sich geschickt einen Weg durch Löcher und Schächte eines Hangars bahnt, in dem Cannabis gezüchtet wird, ist eine wahre Freude. Mit straubianischer Genauigkeit registriert die Kamera jeden seiner Handgriffe. Dieser Hangar ist die erstaunlichste Neuigkeit im Werk der Dardennes, die früher prinzipiell an Originalschauplätzen drehten. Und nun betreten wir einen künstlichen Ort voller Schläuche, Höhlen, Ventilatoren und Verschläge (Ausstattung: Igor Gabriel). Es geht mit Lampen durch dunkle Gänge und dann stehen wir vor einer hell erleuchteten Pflanzenzucht wie im Raumschiff von »Silent Running« (»Lautlos im Weltall«, 1972). Schon »Das Kind« (2005) spielte in den Brachen des postindustriellen Seraing (Lüttich). Und sie kehren wieder, denn die aufregende Flucht der Kinder geht durch eine verlassene Schottergrube. Aber die Drogenfarm und das ewige Wummern ihrer Heizung ergeben schon einen besonders apokalyptischen Raum, es ist ein Sweat Shop, wie zuvor die Küche des Dealers.

Zwar ist Humor ungefähr das Letzte, womit man Filme der Brüder Dardenne verbindet, dennoch erlauben sie sich in »Tori und Lokita« einige bittere Namensscherze: Die Diskothek, an deren Türsteher die beiden Kinder Drogen verticken, nennt sich »Reality«, der SUV des Häschers (Tijmen Govaerts) ist ein »Discovery«, der finstere Schleuser (Marc Zinga) heißt Firmin, also »der Unerbittliche«, und seine Komplizin (Nadège Ouedraogo) ist Justine, also »die Gesetzesliebende« – mit diesem letzten Namen trieb schon der Marquis de Sade seinen Schabernack. Man sagt, die Brüder Dardenne seien nicht sentimental. Das ist untertrieben. Sie können sehr böse sein.

»Tori und Lokita« (Tori et Lokita): Belgien, Frankreich 2022. Buch und Regie: Jean-Pierre und Luc Dardenne. Mit: Pablo Schils, Joely Mbundu. 88 Minuten. Start: 26. Oktober.

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