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Zwischen Identitätspolitik und Volksgemeinschaft: Warum »kulturelle Identität« kein harmloser Teamgeist ist

  • Tobias Prüwer
  • Lesedauer: 6 Min.

»Ein Anschlag auf die kulturelle Identität aller Sachsen« – nichts Geringeres war der Juwelendiebstahl im Grünen Gewölbe Dresdens aus Sicht des Innenministers. Ob das sächsische Selbstbild nach der Teilrückgabe des Schatzes wieder gekittet wurde, ist nicht bekannt. Regelmäßig plädiert allerdings ein gewisser bayerischer Politiker für eine neue Leitkulturdebatte; zuletzt meinte Markus Söder im »Mia san mia«-Wahlkampf, die Grünen würden nicht zu Bayern passen. Und auch die bundespolitischen Imperative zur Integration sind von der Vorstellung einer kulturellen deutschen Identität unterfüttert – aber was darunter genau zu verstehen ist, erklären ihre Verfechter*innen nicht. Und ist das Konzept einer kulturellen Identität nicht nur eine andere Dimension jener viel gescholtenen anderen Identitätspolitiken?

Gemeinschaftsstiftender Lückenfüller

Hier der Versuch einer eigenen Definition: Kulturelle Identität ist die Idealisierung des Kollektivzwangs. Auf ihr fußen die Rufe nach Leitkultur und Integration, der angebliche Kampf der Kulturen, die Rede von Mehrheitsgesellschaft und Schicksalsgemeinschaft. Kulturen sind demnach vom Individuum unabhängige Entitäten, denen es sich – einmal hineingeboren – ergeben muss. Sie hätten feste Grenzen, einen unveränderlichen Kern und setzten eben Kulturschranken, denen sich der Einzelne ergeben muss. Unschön zum Ausdruck kommt dies in Sätzen wie »Ich bin ja kein Rassist, aber die ... haben schon eine andere Kultur«.

Ursprünglich stammt der Begriff der Identität aus der Logik und meint so viel wie Übereinstimmung. Auf die reale Welt übertragen kann man vielleicht am ehesten noch von zwei Steinen behaupten, sie seien gleich, weil beide aus Granit sind und dasselbe Gewicht besitzen. Schon bei komplexeren Wesenseinheiten wie etwa zwei Hauskatzen oder erst recht bei zwei Nachbar*innen ergibt das Feststellen von absoluter gegenseitiger Übereinstimmung keinen Sinn. Was soll es bedeuten, zu sagen »Ich bin mit mir selbst identisch«? Tatsächlich ist doch jede Person unentwegt in Bildungsprozesse eingebunden, entwickelt sich und bleibt eben nie gleich oder von fester Identität.

Dennoch verbreitete sich die Rede von einer kollektiven Identität in den 1980er Jahren in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und füllte schließlich jene national-gemeinschaftsstiftende Lücke, die mit dem Ende des Kalten Kriegs entstanden war. Dabei sind es gerade die Leere und Floskelhaftigkeit, die Unterbestimmung und Unbestimmbarkeit, die dem Identitätsprinzip in öffentlichen Debatten und gerade der Politik zu einem Boom verholfen haben. Kulturelle Identität wurde zur unhinterfragten Bezugsgröße einer an einem bestimmten Ort versammelten Menschengruppe, die angeblich den gleichen Lebensstil und dasselbe Sittenverständnis teilen. Man kann sich ja mal im eigenen Wohnviertel umschauen, auf wie viele Menschen das zutrifft. Und auf welche Übereinstimmung soll man erst die Lebensweisen von 80 Millionen Menschen bringen können?

Kultur als Korsett

Trotz ihres Konstruktionscharakters wird die vermeintliche kulturelle Identität am Ende doch zur gesellschaftlichen Gegebenheit mit verbindlicher Handlungsanleitung. Die identitäre Bestimmung gewinnt für die einzelne Person eine Fatalität und Alternativlosigkeit, die ihr Verhalten bestimmt – als Vereinzelte muss sie hinter das nationale große Ganze zurücktreten. Dies wird als ein kollektives, qua gemeinsam geteilter Kultur erlebtes Selbst aufgefasst, inklusive Abstammungsmythen und Verklärungen, die vorgeben, dass die Bürger*innen eines Staates etwas vermeintlich Ursprüngliches miteinander teilen.

Das nationale Ego wird über große Erzählungen gestiftet: zum Kulturgut kanonisierte Literatur und Musik, zum Idealtyp stilisierte Landschaften wie der deutsche Wald oder Monumente wie das Brandenburger Tor. Bis heute gilt eine Schlacht im Teutoburger Wald im ersten Jahrhundert als »Geburtsstunde der Deutschen«. Es ist schon absurd genug, von germanischen Stämmen eine Kulturkontinuität ins Heute abzuleiten; denkt man das noch größer, etwa in politischen und geografischen Einflusszonen, kann man, wie der Politikwissenschaftler Samuel Huntington, einen »Kampf der Kulturen« diagnostizieren. Mit der globalen Wirklichkeit hat ein solcher kulturell begründeter Bellizismus allerdings nichts zu tun.

Niemand kann den Prägungen seiner Kultur entrinnen, lautet hier die Botschaft. Waren es im 19. und 20. Jahrhundert Blut, Gene oder andere biologische Faktoren, so wird der Mensch nun vorrangig über seine Kultur definiert. Diese entlässt ihn aber ebenso wenig wie ehedem die »Rasse«. Korsettartig ist der Mensch laut dieser, auch Kulturalismus genannten, Position in seiner kulturellen Identität verschnürt. So werden Menschen, die nicht schon immer die Nachbar*innen waren, zu Fremden mit qua Geburt in eine bestimmte Kultur erworbener Andersartigkeit. Sie brächten eine andere Kultur mit, die nicht zur heimischen passt.

Ähnliches passiert, reserviert man solchermaßen essenzialisierte Kultur nur für bestimmte Gruppen, wie es teilweise bei Diskussionen um kulturelle Aneignung geschieht – mit umgedrehten Vorzeichen. Hier geht es um Anerkennung Anderer und den Respekt, der zum Beispiel dadurch ausgedrückt werden soll, dass nur nichtweiße Menschen Dreadlocks tragen sollten. Dabei werden diese anderen, vorgeblich anzuerkennenden Kulturen aber genauso wie von rechts als homogene Gebilde beschrieben. Wiederum verschwindet das Individuum hinter einer angeblichen Gruppenidentität.

Natürlich ist kulturelle Hegemonie am Ende nur eine Fiktion, für die alle Brüche im Eigenen »vergessen«, ausgeblendet und als einheitlich interpretiert werden. Den Zwangs- und Ausschlusscharakter zu kritisieren, bedeutet nicht, zu leugnen, dass Menschen gemeinsame Überzeugungen oder Vorlieben haben können. Es beinhaltet allerdings durchaus, die Überbetonung von unversöhnlichen Differenzen zwischen vermeintlich in Kulturen eingesperrten und zur Kommunikation unfähigen Menschen abzulehnen.

Normaler Menschenverstand?

Das Gespenst kulturelle Identität ist auch versteckter wirksam, etwa im Normalismus der Rede vom »kleinen Mann«, der »normalen Familie« und »Otto-Normalverbraucher«. Diese Figuren werden gegen progressive Veränderungen gewissermaßen als rote Karte gezogen: Maßnahme XY sei »normalen Menschen« nicht zuzumuten. Die AfD plakatierte zur Bundestagswahl 2021 »Deutschland. Aber normal«, Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse meinte, er sei »mittlerweile zum Symbol geworden für viele normale Menschen«.

Identitätspolitik wird vielfach mit Forderungen nach diversen Minderheitenrechten in Verbindung gebracht. Aber es gibt auch identitäre Mitte-Politik: Nehmen wir das erwogene Verbot, neue Einfamilienhäuser zu bauen. Das Argument hierfür ist rational, Eigenheime sind unökonomisch in Hinblick auf die Bereitstellung von Wohnraum, sie zersiedeln, versiegeln Fläche und fördern, durch die Pendlerpauschale unterstützt, die Umweltverschmutzung. Das Gegenargument wurde lebensweltlich geführt. Es ging um Gewohnheits- und Freiheitsrechte und darum, dass ein Eigenheim nun einmal dem »normalen Familienwunsch« entspricht. Hier wurde mit Gruppenzugehörigkeit argumentiert, ohne das als Identitätspolitik auszuweisen.

Dass das Althergebrachte, »so wie wir es immer gemacht haben«, seinerseits ideologisch ist, wird besonders dort sichtbar, wo es in Frage gestellt wird. Das kann man positiv wenden, wenn man das Etikett Identitätspolitik auf alle Positionen kleben würde, die mit Identitätsbezug argumentieren. Damit wäre eine analytische Kategorie gewonnen, die nicht nur bei der Entschleierung des Konzepts Normalität hilft. Auch die darin verborgenen Ansprüche wären leichter formulierbar und damit hinsichtlich ihrer Plausibilität überprüfbar.

Nimmt man dem Wort »Identitätspolitik« den negativen Beigeschmack, hat man ein neues Analyseinstrument, mit dem ein unverstellter Blick auf die Gesellschaft möglich wird. Mithilfe der Kategorie lässt sich unterscheiden zwischen der materiellen und der kulturell-emotionalen Dimension gesellschaftlicher Phänomene. So könnte zum Beispiel der Vergleich der Durchschnittsgehälter von Männern und Frauen zeigen, dass die Forderung nach einer Frauenquote kein identitärer Selbstzweck ist, sondern ökonomisch begründet; dass nicht allein der Wunsch nach Repräsentation die Quotenforderung motiviert. Wie wandelbar im Übrigen Normalität ist, zeigt auch das Thema Mülltrennung: Während diese einst als staatliches Diktat galt, wird sie von vielen heute für eine deutsche Eigenart gehalten – als Teil der »kulturellen Identität« eben.

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