Siegeshoffnung und Denkblockaden

Die öffentliche Debatte über den Ukraine-Krieg ist zu einem einseitigen Mediendiskurs geworden

  • Jürgen Angelow
  • Lesedauer: 7 Min.

Kriege sind gewaltsame Polarisierungen. In ihnen werden komplizierte Zusammenhänge auf simple Formeln gebracht: »für uns« oder »gegen uns«! Siegeshoffnung wird geschürt, um durchzuhalten. Das ist unter Kämpfenden normal. Den orientierenden Anforderungen an eine pluralistische Medienlandschaft genügt das allerdings nicht. Deutschland ist kein Beteiligter des Krieges, dennoch erleben wir Parteinahme ohne abgewogene Positionsbestimmung. Das hat mit einem sachlichen Diskurs, der Nichtbeteiligte orientieren soll, nichts zu tun. Es gibt kein argumentatives Aufeinanderzugehen und auch keinen kollektiven Lernprozess.

Die wichtigste Denkblockade der gegenwärtigen Debatte besteht im dichotomischen Freund-Feind-Denken. Wir kennen das Motiv »Himmel gegen Hölle« seit Dante Alighieris »Göttlicher Komödie« (1321). Wie ein roter Faden zieht sich dieser Leitgedanke durch alle Weltanschauungskämpfe seit der Französischen Revolution und den »Betrachtungen« Edmund Burkes (1790). In der neueren Zeit ist er unter dem Stichwort »Kampf gegen das Reich des Bösen«, wiederentdeckt worden. Heute lautet er »Demokratie gegen Autokratie«, wobei die Ukraine in der Rolle einer Verteidigerin der Demokratie erscheint. Was für eine Beschönigung!

Im Gegensatz dazu wird Russland, als Autokratie, stets abfällig behandelt. Die Polarisierung wird leitmotivisch und sprachlich vorangetrieben, mal subtiler, mal brachialer. Sie macht uns zu Gefangenen der Kriegslogik und hindert uns, über den Krieg hinaus gemeinsame Interessen oder gar Zukunft zu denken, was durch aktuelle Formulierungen belegt wird: Der Westen könne mit Putins Russland »nie wieder« handeln oder gar verhandeln, die europäische Sicherheit sei künftig absehbar nicht mehr mit, sondern nur noch »gegen Russland« (Michael Roth, SPD) zu organisieren.

Prof. Jürgen Angelow
Prof. Jürgen Angelow

Foto: Anja Müller

Prof. Jürgen Angelow, Jahrgang 1961, ist Historiker und lehrt an der Universität Potsdam und der FU Berlin. Lehraufträge hatte er auch an den Universitäten in Toruń (Polen), Lwiw und Havanna. Zuletzt schrieb er im »nd« im April 2023 über »Geschichtsschreibung aneinander vorbei«.

Weitere Denkfehler im Ukraine-Diskurs sind Personalisierungen, Wunschdenken und Denkverbote. Die Meinung, dass es sich beim Ukraine-Konflikt um »Putins Krieg« handelt, die Dämonisierung seiner Person, der abwechselnd Böswilligkeit, vorhersehbares Scheitern und tödliche Krankheiten zugeschrieben werden, gehört in diese Kategorie. Personen sind für den Einzelnen greifbarer als handlungsleitende Ideen, Konzepte oder Strukturen. Doch der Einzelne handelt nicht im luftleeren Raum. Und es muss gefragt werden, mit wem in Russland wohl am Ende verhandelt werden muss, wenn nicht mit Putin.

Wenn Hinweisen auf die militärische Stärke Russlands mit der Äußerung begegnet wird, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren »darf« und dass sie diesen Krieg sogar gewinnen »muss«, einschließlich der Rückeroberung der Krim, dann ist das realitätsfernes Wunschdenken ohne jede Voraussicht. Hinzu kommen Denkverbote, die das Spektrum akzeptierter Meinungsverschiedenheiten verengen. Man dürfe nicht »Putins Narrativ« verbreiten, heißt es. Und es wird so getan, als sei der Beifall von der falschen Seite ein Indikator für Unwahrheit.

Im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird man lange suchen müssen, um eine Talkshow zu finden, die von ihrem Format her darauf ausgerichtet wäre, eine auf Erkenntnisgewinn zielende Sachdiskussion zu fördern. Hier wird die Gegenposition immer so besetzt, dass sie in der Minderheit bleibt und sich eine Mehrheit gegen sie qualifizieren kann. Bei Anne Will, Sandra Maischberger oder Markus Lanz dominieren stets proamerikanische Narrative. Einer Analyse der größten Politik-Talkshows vom 23. Februar 2023 zufolge waren der bekennende »Atlantiker« Norbert Röttgen (CDU) und die FDP-Rüstungslobbyistin (Lobbycontrol: »Mehr Abstand wäre wünschenswert«) Agnes Strack-Zimmermann mit 18 bzw. 16 Auftritten am meisten präsent. Kritische Positionen, die deutsche Interessen – gegebenenfalls auch im Konflikt mit den USA – zur Sprache brachten, blieben in der Minderheit. Den Teilnehmern dieser Formate war stets daran gelegen zu gewinnen. Anstatt Diskurse rechthaberisch zu blockieren, sollte man sie besser als Lernprozess verstehen.

Die Positionen der Kriegs- und der Friedensbefürworter sind ausgetauscht: Die Einen gehen davon aus, dass Putin einen nicht provozierten Eroberungskrieg führt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann, wenn sie nur genug unterstützt wird, dass Russland durch eine Niederlage zum Frieden gezwungen werden muss und dass vorzeitige Verhandlungen kontraproduktiv wären. Es würde im westlichen Interesse liegen, Russland militärisch und wirtschaftlich auf Dauer zu schwächen und als Außenseiter zu behandeln. Die Ukraine sollte sowohl Mitglied der Nato als auch der EU werden.

Die Anderen verweisen auf ein Konflikt-Vorspiel, welches viele Jahre zurückreicht. Sie interpretieren den Krieg nicht als das Aktionsergebnis eines Alleingangs Putins, sondern als Ergebnis verfehlter Interaktionen. Sie verneinen, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen kann, da die Eskalationsdominanz bei Russland liegt. Sie halten frühzeitige Friedensverhandlungen für wünschenswert und plädieren dafür, Russland in die internationale Ordnung wieder einzubinden, um sich endlich den globalen Erfordernissen zuzuwenden: Hunger, Krankheiten, Energie und Ressourcen, Umwelt- und Klimaschutz. Und sie konstatieren schließlich, dass die Ukraine zwar westliche Unterstützung verdient, nicht aber eine Nato- oder EU-Mitgliedschaft.

Neuralgisch ist die Problematisierung der Kriegsursachen, die oft mit der Zuweisung von Kriegsschuld beantwortet wird. In den Medien hat sich die stereotype Formulierung vom »russischen Angriffskrieg« durchgesetzt. Sie schließt die Frage nach den Kriegsursachen von vornherein aus. Zweifellos trat der Krieg, der in den Ostgebieten der Ukraine bereits vor sieben Jahre einsetzte, mit dem unmittelbaren, unmaskierten Eingreifen Russlands in eine neue Phase. Diese Eskalation steht für das Scheitern einer unter anderem von Deutschland verfolgten Kooperation, die nicht nur in Russland, sondern auch im westlichen Lager prominente Gegner hatte. Würde die Formel vom »russischen Angriffskrieg« mit diesem Nebensatz komplettiert, dann würde der Schwerpunkt nicht auf Schuldzuweisung, sondern auf Kausalzurechnung gelegt, eigene Interessenkonflikte würden nicht ausgeblendet.

Nicht nur europäische Politiker, sondern auch wichtige Größen der US-Außenpolitik haben frühzeitig davor gewarnt, die fortschreitende Nato-Osterweiterung, insbesondere die Einbeziehung der Ukraine, sowie deren militärische Aufrüstung auf die leichte Schulter zu nehmen. Die RAND-Studie aus dem Jahr 2019 hat vorausgesagt, dass für diesen Fall nicht nur Russland, sondern auch der Westen und die Ukraine mit dramatischen Konsequenzen zu rechnen hätten.

Neuerdings kommt diese prominente Denkfabrik zu dem Ergebnis, dass die Vermeidung eines langen Krieges zwischen Russland und der Ukraine für die USA eine höhere Priorität besitzt als der Schutz der territorialen Integrität der Ukraine. Drei Maßnahmen werden empfohlen, die jeweilige Kosten-Nutzen-Analyse zwischen Krieg und Frieden im Sinne des Friedens zu beeinflussen: erstens eine Neu-Dosierung der US-Militärhilfe für die Ukraine, die Russland entmutigt, den Krieg fortzusetzen, gleichzeitig aber Druck auf die Ukraine ausübt, Friedensverhandlungen zu führen, zweitens Sicherheitsgarantien der USA und ihrer westlichen Partner für die Ukraine, aber außerhalb einer Nato-Mitgliedschaft, und drittens die Klärung von Bedingungen für eine Aufhebung der gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen. Das klingt vernünftig und könnte die europäischen Partner der USA besser einbinden.

Wie würden die EU-Staaten damit umgehen, wenn sich (nach Afghanistan) ein hegemonialer Alleingang der USA in Sachen Ukraine wiederholt? Was, wenn die USA ihre wirtschaftliche Unterstützung für die Ukraine zurückfahren, den Europäern die Hauptkosten des Konflikts aufbürden und anschließend den Wiederaufbau der weitgehend zerstörten, hochverschuldeten Ukraine? Das würde der Logik der amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik nicht widersprechen. – Wirtschafts-, Sozial-, Umwelt- und Sicherheitspolitik sind im gegenwärtigen Konflikt miteinander verschränkt. Ein regionaler Konflikt führt zu globalen Folgen. »Unser globales Dorf ist zu verletzlich!« Es braucht eine konsistente Gesamtstrategie. Mit blockierten Diskursen ist die aber nicht zu haben.

In den Debatten zum Ukraine-Konflikt verfehlen sich die Vertreter beider Narrative. Sie reden aneinander vorbei. Dadurch werden Erkenntnisgewinn und Lösungsansätze blockiert. Gefragt werden müsste, welche Anreize von Deutschland und von Europa ausgehen sollten, beide Kriegsparteien an den Verhandlungstisch zu bringen. Zum Beispiel, indem Waffenlieferungen an die Forderung nach Kompromiss- und Verhandlungsbereitschaft geknüpft werden.

Gefragt werden müsste, mit welchen Mitteln und in welchen Konstellationen die Verteidigung des Völkerrechts zukünftig organisiert werden soll, wenn Sanktionen nicht fruchten und die westlichen Staaten unglaubwürdig und zu seiner Verteidigung allein unfähig sind. Vielleicht hilft bei der Abgrenzung von Territorien nach Kriegen ja doch die gute alte Volksbefragung, wenn sie international überwacht und nach einer längeren Periode des »zur Ruhekommens«, etwa nach einem längeren Waffenstillstand, durchgeführt wird. Es müsste gefragt werden, wie die drohende De-Globalisierung verhindert und Tempoverluste bei der Lösung der drängenden Menschheitsaufgaben vermieden werden können – ohne Teilnehmer des Systems dauerhaft auszugrenzen. Doch diese Fragen werden nicht prominent gestellt.

Immanuel Kants »Fragmenten« verdanken wir die Einsicht, dass ein anderer niemals anders überzeugt werden kann als durch seine eigenen Gedanken. Ihnen zu folgen ist Voraussetzung, ihn durch neue Argumente zu gewinnen. Deshalb sollten wir gemeinsam darauf achten, jene Positionen besonders gründlich zu prüfen, die wir nicht teilen. Die in den öffentlichen Diskursen häufig zur Schau gestellte Selbstgewissheit bildet keinen guten Rahmen für einen vorurteilsfreien Diskurs. Vielleicht hilft es, sich wieder mit etwas mehr Demut und Respekt zu begegnen: Wir sind wechselseitig darauf angewiesen, Argumente und Gegenargumente auf den Prüfstand zu stellen, um uns der eigenen Interessen sowie der Konsequenzen unseres Handelns zu vergewissern.

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