Flüchtende aus Mexiko: Die gefährlichste Route des Planeten

Eine Rekordzahl an Schutzsuchenden trifft in Mexiko ein. Hilfe von der Regierung gibt es kaum

  • Moritz Osswald, Mexiko-Stadt
  • Lesedauer: 5 Min.

Migrant*innen in Südmexiko haben sich vergangenen Montag auf den Weg Richtung Norden gemacht. Genaue Zahlen gibt es nicht, Expert*innen vor Ort rechnen mit etwa 5000 Flüchtenden. Schauplatz des Geschehens ist wie immer die Grenzstadt Tapachula. Sie ist für Schutzsuchende aus Zentral- und Südamerika der erste Ankunftspunkt in Mexiko nach Guatemala. Medien sprechen von einer anhaltenden »Migrationskrise«. Tatsache ist, dass die Anzahl an Migrant*innen Rekorde bricht: 2022 hat der US-Grenzschutz 2,76 Millionen Personen aufgegriffen – was den vorherigen Jahresrekord von über einer Million übertrifft. Der Präsident Costa Ricas, Rodrigo Chaves, rief kürzlich den nationalen Notstand aufgrund der Rekordzahl an Migrant*innen aus.

Die stete Migration von Menschen aus Zentralamerika, Venezuela, Haiti, Kuba oder Kolumbien ist nicht der einzige Grund für die hohen Zahlen. Seit kriminelle Gruppen in Ecuador die Gewalt eskalieren ließen, zählt das südamerikanische Land zu einem weiteren relevanten Herkunftsland. Die mexikanische Newsplattform »Pie de Página« berichtet zudem, dass Behörden im laufenden Jahr die dreifache Zahl an afrikanischen Migrant*innen im Vergleich zum Vorjahr registriert haben. Die Grenze zwischen Mexiko und den USA habe sich »zum weltweit größten Migrationskorridor« entwickelt.

Die Maxime der US-Regierung hinsichtlich der Migrationspolitik ist noch immer dieselbe: »Do not come«. In nur drei Worten fasste US-Vizepräsidentin Kamala Harris im Juni 2021 in Guatemala zusammen, dass die Politik der Abschottung und Ausgrenzung von Donald Trump weitergeführt werde. Die »wunderschöne Mauer« zu Mexiko, wie sie Trump einst nannte, lässt Präsident Joe Biden weiterbauen – entgegen seiner Versprechen während des Wahlkampfes. Auch Abschiebeflüge für venezolanische Migrant*innen wurden vor Kurzem wieder aufgenommen.

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In Städten wie New York oder Chicago sind die Flüchtlingsherbergen überfüllt. Das hat dazu geführt, dass dort Geflüchtete stellenweise auf der Straße schlafen. In Mexiko ist die Situation dieselbe: »Wir haben keinen einzigen Platz mehr frei. Drei Personen schlafen sogar auf Stühlen«, erzählt Armando Vilchis Vargas am Telefon. Er hat die Herberge »Hermanos en el Camino« (Brüder auf dem Weg) gegründet. Seit 13 Jahren versorgt er Migrant*innen in einer umfunktionierten Autowerkstatt in der Peripherie der mexikanischen Hauptstadt. Essen, Hygieneartikel, das Nötigste zum Leben organisiere er mit seinem eigenen Geld und durch Spenden der Zivilgesellschaft. »Null Hilfe« komme von der Regierung – weder auf Gemeindeebene, noch auf Landesebene. Im Gegenteil: Vargas berichtet, dass ihm Geflüchtete immer wieder erzählen, wie Beamte und Polizist*innen sie um Geld erpressen, damit sie weiterziehen dürfen. Die Situation sei »schrecklich«.

Im Hinblick auf die Karawane, die vor wenigen Tagen loszog, kommentiert Vargas gegenüber dem »nd«: »Solange Präsidenten wie Maduro, Díaz-Canel und Konsorten existieren, werden die Menschen weiter auswandern. Die Venezolaner etwa, die zu mir in die Herberge kommen, haben schlicht Hunger. Sie haben zu Hause nichts zu essen.« Doch warum organisiert sich die Migration Zentralamerikas eigentlich in den sogenannten Karawanen?

Die Migrationsexpertin Merari Montoya erklärt, dass diese Karawanen Tausender Flüchtender seit etwa 2018 losziehen. Zuvor seien Menschen allein oder in kleinen Gruppen migriert. Sie sieht drei zentrale Gründe für dieses Phänomen: die Tatsache, dass das Organisierte Verbrechen die totale Kontrolle über die Fluchtrouten erlangt hat; den Versuch der Senkung der gestiegenen Kosten des Grenzübertritts sowie die zunehmende Repression und Korruption der Behörden. Der Zusammenschluss in großen Gruppen soll vor allem vor Übergriffen seitens krimineller Gruppen und korrupter Behörden schützen.

Menschenhandel, Zwangsprostitution und Zwangsrekrutierungen seien Montoya zufolge jedoch weiterhin üblich. »Mexiko war früher ein Herkunftsland«, so die Expertin. Jetzt sei Mexiko eher ein Transitland für Migrant*innen aus anderen Ländern – vor allem aus Zentralamerika. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) der UN konstatierte in einem Bericht 686 tote oder vermisste Migranten für das Jahr 2022 entlang der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das mache sie »zur gefährlichsten Landmigrationsroute der Welt«.

Mexikos amtierender Präsident Andrés Manuel López Obrador hielt im südmexikanischen Palenque kürzlich einen multilateralen Gipfel zur Migration ab. Insgesamt zehn Länder waren zu Gast, darunter auch umstrittene Figuren wie der venezolanische Präsident Nicolás Maduro oder der nie demokratisch legitimierte Interimspräsident von Haiti, Ariel Henry. López Obrador verurteilte die US-Sanktionen gegenüber Venezuela und betonte, die einzelnen Herkunftsländer müssten die Fluchtursachen angehen. Man könne »nicht auf die USA warten, um mit dem Migrationsphänomen fertig zu werden«.

Luis Garcia Villagrán, Menschenrechts- und Migrationsaktivist aus der Region um Tapachula, kritisiert im Interview mit »El Heraldo de México« die Tatsache, dass »das Land, in welches alle hineinwollen, nicht präsent war«. Bei einigen Flüchtenden findet jedoch ein schleichender Paradigmenwechsel statt: Längst nicht mehr alle wollen in die USA. Vor allem Haitianer*innen versuchen es mit humanitären Visa in Mexiko und wollen dort bleiben. Die »Migrationskrise« ist vor allem das – eine humanitäre Krise, die sich noch weiter zuspitzen wird.

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