Desaster bei Berliner Sozialticket: Kein Zurück zum Berlin-Pass

Seit fast einem Jahr funktioniert der Übergang zum Berechtigungsnachweis nicht

»Sie merken, ich bin wütend. Das bin ich schon seit elf Monaten.« Annette Siegert ist seit fast einem Jahr wütend, denn seit fast einem Jahr funktioniert die Umstellung vom Berlin-Pass auf den Berechtigungsnachweis nicht. Sie selbst bezieht Erwerbsminderungsrente und Grundsicherung und ist Teil des Netzwerks »Ich bin armutsbetroffen«. Am Donnerstag spricht sie im Sozialausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses, weil Linke- und Grünenfraktion eine Anhörung zum Thema »Aktuelle Situation und Weiterentwicklung des Berechtigungsnachweises (alt ›Berlin-Pass‹)« initiiert haben. Die im Ausschuss Angehörten sind sich einig: So, wie es jetzt ist, geht es gar nicht. Der Berlin-Pass war besser.

»Vorher hatte ich nur eine Karte. Jetzt habe ich eine Plastikkarte, muss aber noch den Berechtigungsnachweis-Zettel und den Leistungsbescheid mitnehmen«, sagt Annette Siegert vom Netzwerk »Ich bin armutsbetroffen«. Abgesehen davon, dass es massive Probleme damit gibt, innerhalb einer angemessenen Zeit die benötigte VBB-Kundenkarte zur Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel zu erhalten, hat Siegert auch in anderen Institutionen Probleme, ihren Anspruch auf Vergünstigungen nachzuweisen. »Die Musikschule nimmt den Berechtigungsnachweis immer noch nicht als Nachfolge des Berlin-Passes an. Das ist eine bezirkliche Musikschule«, sagt sie. In Museen habe sie dasselbe Problem erlebt und nehme deshalb überall auch den Leistungsnachweis mit.

Das größte Problem bleibt aber die BVG. Denn die Übergangsregel, die es den Leistungsbeziehenden erlaubt hat, auch ohne Kundenkarte das Sozialticket zu nutzen, gilt seit Oktober nicht mehr. Allerdings braucht es für die Kundenkarte zunächst den zu beantragenden Berechtigungsnachweis, dann muss die Karte bei der BVG beantragt werden, die noch einmal mehrere Wochen zur Bearbeitung braucht. »Ich kenne viele Leute, die ihr Sozialticket deshalb gar nicht nutzen können«, so Siegert. »Warum ist die Übergangsregel ausgelaufen, wenn es noch nicht funktioniert?«

Auch die anderen Teilnehmenden an der Anhörung, zum Beispiel aus Stadtmission, Jobcenter und Senior*innenarbeit, zeigen sich unzufrieden über die nicht funktionierende Umstellung. »Menschen, die die Karte brauchen, kommen ins Jobcenter. Aber wir können die Berechtigungsnachweise nicht selbst ausstellen«, sagt Monika Bunge vom Jobcenter Treptow-Köpenick. Die eine Stelle in Berlin, die die Ausweise ausstellen könne, sei überlastet. »Zur Zeit der Übergangsregel waren es etwa 7000 Anträge im Monat. Im Oktober ungefähr dreimal so viele.«

Das Ziel der Umstellung war eigentlich eine Vereinfachung der Abläufe in der Verwaltung. 2021 wurde beschlossen, dass Berechtigte den Berlin-Pass nicht mehr extra in den Bezirksämtern holen müssen, sondern dass ein Berechtigungsnachweis für Vergünstigungen schon mit den Leistungsbescheiden der jeweiligen Leistungsbehörden, darunter die Jobcenter, die Sozialämter, das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, verschickt wird. Allerdings wurde sich nicht ausreichend darum bemüht, den entsprechenden Koordinierungsaufwand auch zu organisieren.

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»Was soll ich sagen? Es hatte einen Geburtsfehler«, antwortet deshalb Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) etwas verzweifelt auf die Schilderungen der Angehörten. »Es gab die Entscheidung, dass die Zuständigkeit von den Bezirken zur Landesebene wechselt, aber ohne Aufstockung des Personals und ohne digitale Lösung.«

Weder die anwesenden Abgeordneten noch die Angehörten stellt dieser Weg zufrieden. Man müsse eben zurück zum Berlin-Pass, wenn die Umstellung nicht funktioniere, argumentieren sowohl Taylan Kurt von der Grünen-Fraktion als auch Katina Schubert von der Linksfraktion. Auch die senior*innenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Sebahat Atli, argumentiert: »Die Senior*innen wollen zurück zur Papierkarte. Was ist daran falsch? Es hat funktioniert.«

Einer Rückkehr zum alten System erteilt Staatssekretät Bozkurt eine klare Absage: »Das wäre auch für uns der einfachste Weg. Aber damit übernehmen wir keine Verantwortung.« Er hält an den Übergangslösungen fest, bis das versprochene große Projekt abschlossen sei. »Wir versuchen, innerhalb von sechs Monaten das Problem mit der BVG zu lösen. Das ist die einzige Auskunft, die ich Ihnen gerade geben kann.« Annette Siegert vom Netzwerk »Ich bin armutsbetroffen« ist gar nicht überzeugt. »Ich muss sagen, ich bin ernüchtert. Ich befürchte, dass alles so weitergeht, wie es jetzt ist, und nichts passiert.«

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