Self-Scare

Wie behält man in Zeiten von Krieg und Antisemitismus die Nerven? Finance-Care ist out, Art-Care ist in!

  • Jana Talke
  • Lesedauer: 4 Min.
TALKE TALKS – Self-Scare

Howdy aus Texas, liebe Lesende,
der einzige Vorteil daran, dass die Umgebung einen für Anti-Antisemitismus – siehe letzte Kolumne – cancelt, ist die ganze Freizeit, die man auf einmal gewinnt. Wozu mit Leuten Kaffee trinken gehen, die Terrororganisationen verklären, wenn man zu Hause rumgammeln, zehn Stunden pro Tag am Handy kleben, sich über IS-Flaggen hissende Zoomer ärgern und Herzrasen entwickeln kann? Gut, die meisten dieser Symptome wurden durch meine OP vor ein paar Wochen begünstigt. Eine aufwändige Sinus-Operation mit Vollnarkose, um genau zu sein, die mich, vollgepumpt mit Opioiden, an Bett und Handy fesselte. In Deutschland ist das Hydrocodon, das ich postoperativ eine Woche lang wie Gummibärchen naschte, nicht einmal zugelassen. Sobald ich mich etwas erholt und durch Steroide ausreichend Gewicht zugenommen hatte, fiel mir ein, dass ich Self-Care betreiben sollte. Millennials lieben Self-Care, und die Wellnessindustrie liebt es, uns das Geld aus der Tasche zu ziehen. Finance-Care scheint out zu sein.

Talke talks

News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.

Womit fängt man nur an? Mit Netflix, der Königin unter den Ersatzdrogen! Die Serie »Painkiller« über die Pharmaindustrie erinnert mich daran, dass ich das Hydrocodon auf keinen Fall hätte nehmen sollen. Therapie? Einen Therapeuten habe ich, doch als ich ihm davon erzählen will, dass mich der Antisemitismus um mich herum und im Internet triggert, fällt er mir ins Wort: »Ich bin dagegen, dass Israel sich wehrt!« Das wollte ich gar nicht wissen, aber jetzt weiß ich, dass manch einem Therapeuten ab und zu Self-Censorship guttäte. Nächster Schritt: Yoga. Meine Yogalehrerin ist Jüdin und damit glücklicherweise gegen Antisemitismus, ungleich meiner Hamburger Yogalehrerin, die die Massentierhaltung mit dem Holocaust gleichsetzte. Die Familie meiner texanischen Lehrerin überlebte einst den Holocaust in der Ukraine (wie auch ein Teil der meinen), aber ihre Kurszeiten passen mir nicht so gut. Ich suche nach einem Yoga-Retreat, also einem Kurzurlaub. Mit Meditation. Bei meiner letzten Meditation habe ich mich erkältet, zu lange lag ich verschwitzt auf dem eiskalten Boden herum, wo mich die Klimaanlage schonungslos anpustete. Ich weiß, sich so schnell zu erkälten, ist nicht normal: daher ja die Sinus-OP (übrigens ist das schon die dritte, vielleicht betreibt mein HNO ja Finance-Care).

Drei Tage Yoga-Retreat: 2000 Dollar. Geht auch was anderes? Ich schleppe meine Hündin auf einen ewig langen Spaziergang. Am Ende muss ich sie tragen und habe mir Blasen gelaufen. Wird Zeit, bessere Turnschuhe zu kaufen, jetzt, wo ich mich hoffentlich weniger erkälten werde und mehr spazieren gehen kann. Es lebe das Online-Shopping! Eine dieser schicken Gürteltaschen sollte ich auch erwerben, wenn wir schon dabei sind, aber nicht, um sie um die Taille zu binden, sondern um sie so trendy über eine Schulter zu werfen. Damit sehe ich gleich jünger, sportlicher und self-care-mäßiger aus. In den Warenkorb. Und auch wenn es draußen noch 25 Grad sind, so brauche ich doch trotzdem einen Wintermantel. Mantel in Warenkorb. Pinke Pumps sind weder sportlich, noch halten sie warm, noch bin ich auf Partys eingeladen, aber sie sind schön. Man kann ja nicht immer nur mit Turnschuhen und Gürteltasche rumlaufen! Warenkorb! 

War das alles Self-Care oder eher schon monetärer Masochismus? Wäre es nicht gesünder und sparsamer, einfach das Internet abzuschalten? Glücklicherweise trudeln Einladungen zu Ausstellungseröffnungen per E-Mail bei mir ein, bevor ich mich zum Internet-Detox durchringe. Als sogenannte Micro-Influencerin (viel Arbeit, wenig Follower) darf ich nämlich gratis in Museen – wenn ich Self-Share mit Kunstwerken betreibe, mich also mit ihnen fotografiere. Ich sehe Pierre Bonnard und seine kleinen Dackel, die, wie mein Hund, auch gern getragen werden. Es ist schon erstaunlich, welch gewaltige Wirkung Kunst haben kann. Auf einmal ist alles um mich herum nur halb so dumm und halb so elend. Das ist Art-Care! Die Kunstindustrie ist problematisch, skandalträchtig, will uns das Geld aus der Tasche ziehen und ist 68 Milliarden US-Dollar wert? I don’t care!

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