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  • Serienkiller: »Deutsches Haus«

Dolmetscherin deutscher Schuld

Zuerst sieht »Deutsches Haus« nach Wohlfühlfernsehen aus. Dann wird die Realfiktion der Auschwitz-Prozesse zum Besten, was das Genre je geleistet hat

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, das wusste schon Österreichs Nationalsatiriker Karl Kraus, werfen selbst Zwerge lange Schatten. Nun war sein Zeitgenosse Hitler samt Führungselite um Himmler und Goebbels tatsächlich von geringem Wuchs. Doch wer sich die Disney-Serie »Deutsches Haus« anschaut, sieht hünenhafte Nazis wie Wilhelm Boger und Robert Mulka, die auch mittags Schatten länger als die Schornsteine von Auschwitz werfen.

Neben 19 Mittätern sitzen, nein: thronen, die NS-Verbrecher schließlich vorm Frankfurter Landgericht und tun 19 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers von seiner Schreckensherrschaft so, als gehe sie das alles nichts an – Millionen gequälter Menschen, von denen ein paar nur wenige Meter entfernt Zeugnis ablegen übers Unbeschreibliche.

Wobei unbeschreiblich schon einiges aussagt über die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Annette Hess, den der Streamingdienst Disney+ zeigt. Die Unbeschreiblichkeit brauner Verbrechen sorgt seit Langem dafür, dass Fiktionalisierungen oftmals drastisch, öfter seifig werden, also selten akkurat. »Deutsches Haus« ist akkurat. Mehr noch: das biografische Historytainment der Autorin, die mit »Ku’damm 53–59« buchstäblich Nachkriegsgeschichte schrieb, stellt alles in den Schatten, was je zum Thema gedreht wurde.

Unter der Regie von Isabel Prahl und Randa Chahoud erschafft »Deutsches Haus« Beispielloses: ein hochpolitisches Justiz-Melodram, das anrührt, ohne rührselig zu sein, und lehrreich, ohne zu belehren. Das Emotionen aufwühlt, nicht unterwandert, und Fakten analysiert, statt konstruiert. Das Verantwortliche hart rannimmt, aber auch ihre Opfer nie mit Wattehandschuhen anfasst. Das, in einem Wort, trotz aller Gefühle sachlich bleibt, aber nie subjektiv.

Dafür nutzt Annette Hess den Zaubertrick zeitgeschichtlicher Unterhaltung: Sie sucht menschliche Steigbügelhalter und findet sie im wichtigsten Nukleus sozialer Interaktionen – der Familie, von denen vor allem vier durch die Geschichte führen. Hier der fiktive Gastwirt Ludwig Bruhns (Hans-Jochen Wagner), dessen Tochter Eva (Katharina Stark) den ersten Auschwitz-Prozess als Übersetzerin begleitet. Dort der reale SS-Oberscharführer Wilhelm Boger (Heiner Lauterbach), dessen Frau auch bei Haftbesuchen den Anschein von Normalität zu wahren versucht.

Hier der fiktive Unternehmer Schoormann (Henry Hübchen), dessen erzkonservativer Sohn (Thomas Prenn) Eva heiraten und kleinhalten will. Dort der reale SS-Hauptsturmführer Robert Mulka (Martin Horn), dessen Frau mit ihm wohlgelitten im Hotel Vier Jahreszeiten residiert, während aussagewillige Opfer wie Rachel Cohen (Iris Berben) vom Antisemitismus weiterhin verachtet in billigen Hotels hausen. Das »Deutsche Haus« der Wirtschaftswundersippe Bruhns steht demnach stellvertretend für die Gesellschaft im Ganzen.

In deren Dach-, Zwischen-, Kellergeschossen leben alle, die nicht so nett, adrett, gutbürgerlich sind wie Evas Eltern. Die Prostituierte Sissi (Alice Dwyer) etwa, bei der sich Staatsanwalt Miller (Aaron Altaras) Erholung vom Zynismus der Angeklagten erhofft oder Krankenschwester Annegret (Ricarda Seifried), die ihr Kriegstrauma im Bett des Stationsleiters kompensiert. Es sind mal seelenwunde, mal selbstgerechte Figuren, die allerlei Geheimnisse diktatorischer Zeiten durch die nun demokratische Bundesrepublik schleppen wie der spöttische Strafverteidiger Jerichow (Sabin Tambrea) Entlastungsakten.

Charaktere wie er sind in Prozessprotokollen belegbar oder Abstraktionen realer Figuren. Eva Bruhns zum Beispiel hat Annette Hess ihrer Mutter nachempfunden, »die völlig naiv nur Ehemann, Kinder, ein Heim im Fokus hatte« und vom Holocaust erst in der gleichnamigen US-Serie umfassend erfuhr. In »Deutsches Haus« darf sie ihren Erkenntnisgewinn als Dolmetscherin stellvertretend fürs Land 16 Jahre früher nachholen. Und das ist die famoseste Schauspielleistung einer grandiosen Inszenierung – ohne Theaterdonner in musealer Ausstattung, der Geschichtsfernsehen oft unerträglich macht.

Wenn die Kamera fünf ungeschnittene Minuten der Anklageverlesung folgt, während Edith Bruhns (Anke Engelke) in der Küche das Radio abdreht; wenn ein Wärter dem Häftling Boger vorm Prozess »Sie stehen das hocherhobenen Hauptes durch« zuraunt, während Eva Zeugen falsch übersetzt, weil sie das Vergasen nicht glauben kann; wenn sich von Cast und Regie bis Schnitt und Musik alle in den Dienst einer unfassbaren Erzählung von unprätentiösem Unterhaltungswert stellen – sind die wichtigen Fernsehpreise 2024 wohl vergeben.

Verfügbar auf Disney+

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