Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux: Immer weiter nach oben

»Die leeren Schränke«, der erste Roman von Annie Ernaux

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor einem Jahr hat sie den Nobelpreis für Literatur bekommen, also wurde es Zeit, dass auch der erste Roman von Annie Ernaux an die deutschen Leser gelangt. Ein Schlüsselwerk für das Verständnis der inzwischen weltberühmten französischen Schriftstellerin. Bereits 1973 spürt man ihre eminente Sprachkraft – und ihren Zorn, ihre Traurigkeit, ihr Gedemütigtsein, ihren Selbsthass. Eigentlich niederdrückenden Gefühle, die ihr Schreiben eindringlich werden lassen, wenn sie Autobiografisches umkreist.

»Die leeren Schränke« beschreibt eine illegale Abtreibung zu Beginn der 60er Jahre, eine legale hätte es nicht gegeben. Der ganze Roman handelt davon, wie die 20-jährige Literaturstudentin Denise Lesure in ihrem Zimmer darauf wartet, ihren Embryo zu verlieren, nachdem ihr eine »Alte« eine rote Sonde in die Vagina geschoben hat. »Durchbohrt, aufgerissen, zugestopft, ich frage mich, ob sie jemals wieder zu gebrauchen sein wird ... Niemand hat Schuld. Nur ich, ganz allein … Die Tochter des Krämers Lesur«.

Sie blickt zurück auf ihr junges Leben. Erst fühlte sie sich als ein »Trampel in weißen Kleinmädchensocken«, dann wurde sie Klassenbeste und ist jetzt »eine Stipendiatin an der Uni«. Unerträglich sind ihr all die »Arzt- und Ingenieurstöchter« neben sich. Sie hasst die Welt der Wohlhabenderen, zu der sie gehören will, aber eigentlich hasst sie sich selbst. Dabei ist ihre Herkunft zwar bescheiden, aber nicht wirklich arm. Die Eltern besitzen einen Laden und eine Kneipe – eine »Institution«: »Kunden und Gäste fallen in Scharen ein.« Sie wird geliebt und nennt die Eltern doch »Kleinverdiener, Jammergestalten« – auch wenn man es nicht will, lesend lehnt man sich gegen die Autorin auf. Aber deshalb ist sie ja so berühmt geworden: wegen ihrer Radikalität, sich selbst in Frage zu stellen. Es war ihr Verdienst, die soziale Ungerechtigkeit sprachmächtig in die Literatur gebracht zu haben. Nur will es einem hier scheinen, dass es ihr gar nicht an Gerechtigkeit für alle gelegen ist, sondern nur an dem Aufstieg, der durch ihre Herkunft gebremst wird, viel schwerer ist als für diejenigen, die ihn weiter oben begonnen haben.

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Mit ihrer Schwangerschaft kommt Denises Freund, der selbstbewusste Marc, nicht zurecht. Er liebt sie wohl nicht genug. Aber liebt sie ihn denn? »Ein Schnösel mit Klasse, schwarzer Regenschirm, Ledertasche …« Hier geht es nicht um die Tragödie einer verlassenen Frau, sondern um die Lage der Frauen insgesamt. Die Eltern wären sofort mit dem Wort »Flittchen« zur Hand. Sie erinnert sich an das Getratsche, als »die kleine Barret« mit drei Kerlen erwischt worden war. Eine Vergewaltigung, doch man gibt ihr die Schuld.

Die Prüderie, die Engstirnigkeit, die Hilflosigkeit, keinen Arzt zu finden für ihr Problem – im Roman »Das Ereignis« hat Ernaux diese Episode in ihrem Leben noch einmal in aller Drastik aufgegriffen. Die Verfilmung gewann einen »Goldnen Löwen« in Venedig. Seit 1975 ist Schwangerschaftsabbruch in Frankreich legal. Nun soll dieses Recht in der Verfassung verankert werden. Ernaux scheint etwas bewirkt zu haben. Was in diesem frühen Werk aber vorrangig verhandelt wird, ist die Spaltung der kapitalistischen Gesellschaft – nicht nur in Arm und Reich, sondern in ein viel differenzierteres Kastensystem.

So drastisch wie Ernaux die Gefühle ihrer Protagonistin schildert, denkt man mitunter an ironische Rollenprosa. Dass man an Denises Seite ist und gleichzeitig in Distanz, gehört zur Wirkung des Buches. Den Wunsch, »in einer schöneren, saubereren, reicheren Welt als meiner eigenen zu leben«, ist verständlich, führt hier aber nicht zur Solidarität mit den Benachteiligten: »Hauptsache, jemand sein, immer weiter nach oben«, hält Ernaux der Ellenbogengesellschaft einen Spiegel vor.

Annie Ernaux: Die leeren Schränke. A. d. Franz. v. Sonja Finck. Suhrkamp, 218 S., geb., 23 €.

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