Zwölf Hilfsorganisationen klagen an

Die Zerstörung des Seenotrettungsschiffes »Iuventa« in Italien ist noch immer nicht aufgeklärt. Vor sechs Jahren wurde es beschlagnahmt

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 5 Min.

Zwölf NGOs erstatten Strafanzeigen in Italien, um die Verantwortlichen für die Zerstörung des Rettungsschiffes »Iuventa« ausfindig zu machen. Mit dem Schiff hatte die Seenotrettungsorganisation Jugend Rettet zwischen Juli 2016 und August 2017 Tausende Menschen vor dem Ertrinken bewahrt – dann wurde es als erstes ziviles Einsatzschiff von den italienischen Behörden beschlagnahmt.

Offiziell wurde dies als Vorsichtsmaßnahme bezeichnet, um eine mögliche künftige Nutzung des Schiffes für kriminelle Zwecke zu verhindern. Gegen die vier Crewmitglieder wird wegen »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« ermittelt. Als eigentliches Ziel der Beschlagnahmung sieht Sascha Girke von der Crew, »die Rettungskapazitäten der zivilen Flotte einzuschränken. Den Preis dafür zahlen die migrierenden Menschen, deren grundlegende Rechte missachtet werden.«

Die »Iuventa« liegt nun seit über sechs Jahren im Hafen von Trapani und verrottet, zudem soll sie mangels Sicherheitsmaßnahmen geplündert und zerstört worden sein. Bei einer Inspektion im Oktober 2022 wurde festgestellt, dass sich das Schiff »in einem katastrophalen Zustand« befindet, wie die »Iuventa«-Crew mitteilt. Das Gericht in Trapani erkannte eine Verletzung der Sorgfaltspflicht an und verfügte, dass das Schiff wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden müsse, zog jedoch niemanden dafür zur Verantwortung.

Die Crew hatte bereits im März Anzeige erstattet und fordert eine entsprechende Untersuchung, bislang ohne Ergebnis. Daher schlossen sich nun zwölf weitere Organisationen – darunter Sea-Watch, Borderline-Europe, SOS Humanity, United4Rescue und Alarm Phone – mit Strafanzeigen an, um den Druck auf die Staatswanwaltschaft in Trapani zu erhöhen. »Ziel unserer gemeinsamen Aktion ist es, diejenigen sichtbar zu machen, die Rettungsmittel zerstören und damit die Rettung Tausender Menschenleben verhindern«, erklärt Dariush Beigui von der »Iuventa«.

Deren Team sieht die Beschlagnahmung des Schiffes als »Höhepunkt einer der größten und umfassendsten Ermittlungen gegen Seenotrettungs-NGOs«. Die gemeinsame Strafanzeige habe jedoch auch darüber hinaus Bedeutung. Denn allein 2023 seien bereits zwölf NGO-Schiffe in Italien festgesetzt worden, die für gewisse Zeiträume also nicht mehr zur Rettung von Geflüchteten genutzt werden konnten. Derweil sind in diesem Jahr bereits über 2400 Menschen bei dem Versuch gestorben, das Mittelmeer zu überqueren.

Seit Beschlagnahme der »Iuventa« habe Italien solche Maßnahmen systematisch ausgebaut, um zivile Such- und Rettungsaktionen zu behindern. Umso wichtiger sei es, »staatliche Akteure für ihre Handlungen bei der Beschlagnahmung und Zerstörung von Rettungsmitteln zur Verantwortung zu ziehen«, erklärt die »Iuventa«-Crew.

Mit dem Sterben im Mittelmeer befasst sich auch der am Mittwoch veröffentlichte Bericht »No one came to our rescue« (Niemand kam zu unserer Rettung) der internationalen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Er belegt mit zahlreichen Beispielen, dass europäische Küstenstaaten wie Italien wissentlich Menschenleben gefährdeten und dass Menschen auf der Flucht brutaler Gewalt ausgesetzt sind. Grundlage sind medizinische Untersuchungen, die Ärzte ohne Grenzen zwischen Januar und September auf dem Rettungsschiff »Geo Barents« durchgeführt hat.

»Es war nie meine Absicht, das Meer zu überqueren. Niemals, niemals«, wird ein 23-jähriger Kameruner zitiert, dem die NGO im Juli das Leben rettete. Wenn er das Boot, in dem er aufs Meer hinausfuhr, zuerst am Tage gesehen hätte, wäre er gar nicht erst eingestiegen. Geld für die Überfahrt habe er nicht gehabt und den Schlepper daher mit sexuellen Diensten bezahlt. »Es ging ums Überleben.« Dieser und andere Berichte verdeutlichen die Auswegslosigkeit vieler Menschen, die sich schließlich doch auf den gefährlichen Weg über das Meer machen. »Das zentrale Mittelmeer bleibt die tödlichste Grenze auf See«, betont der Bericht.

Viele der von Ärzte ohne Grenzen Geretteten litten unter gesundheitlichen Problemen, die zum Beispiel auf unmenschliche Lebensbedingungen in libyscher Gefangenschaft zurückzuführen waren, wie etwa Hautinfektionen und unbehandelte Wunden. 273 Patient*innen hätten zudem schwerwiegende gewaltbedingte Verletzungen aufgewiesen, darunter Narben von Schusswunden oder brutalen Schlägen sowie ungewollte Schwangerschaften aufgrund sexualisierter Gewalt. Außerdem gebe es ein besorgniserregendes Ausmaß an psychischen Problemen wie Angstzuständen, Albträumen und Flashbacks.

Statt nach Lösungen zu suchen, habe Italien mit dem Regierungswechsel Ende 2022 immer mehr Gesetze und Vorschriften erlassen, die Seenotrettungsorganisationen die Arbeit erschweren. Besonders kritisiert Ärzte ohne Grenzen die Zuweisung von Häfen, die weit von den Rettungsorten entfernt liegen, wodurch die NGO in diesem Jahr bereits 70 Tage nur mit der An- und Abreise verbracht habe und viele Notfälle zurücklassen musste. Außerdem wird in dem Bericht das Drittstaaten-Abkommen der EU mit Tunesien verurteilt, da das Land, genau wie Libyen, gewaltsame Abschreckungsmethoden anwende. Menschen würden an Orte zwangsrückgeführt, an denen sie nicht sicher seien.

Von der EU fordert Ärzte ohne Grenzen, die Auslagerung des Grenzschutzes in Drittstaaten sowie Abschiebungen an unsichere Orte zu beenden, ebenso wie finanzielle Unterstützung von Ländern wie Italien. Deren Gesetzespraxis müsse zudem überprüft werden. Tunesien dürfe nicht mehr als sicher eingestuft werden. Schließlich brauche es ein staatliches Rettungssystem und sichere, legale Fluchtwege nach Europa.

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