Dem Grab von Rabbi Nachman nah sein

Trotz des Krieges ziehen immer mehr Juden in die ukrainische Kleinstadt Uman

  • Bernhard Clasen, Uman
  • Lesedauer: 8 Min.

Kommt man mit dem Auto über den großen Kreisverkehr in die Kleinstadt Uman mit ihren 85 000 Einwohnern in der Zentralukraine, deutet zunächst nichts darauf hin, dass man es mit einer besonderen Stadt zu tun hat. Sie wirkt verschlafen, einige Mütter sind mit ihren Kindern an der Hand auf dem Weg in die Schule, der Verkehr schlängelt sich gemächlich durch die Stadt.

Doch kaum ist man in der Puschkinstraße, merkt man, dass man an einem besonderen Ort angelangt ist. »Brauchen Sie medizinische Hilfe?«, steht auf einem Schild an einem Zaun. Das Besondere daran: es ist in drei Sprachen, in Hebräisch, Ukrainisch und Englisch. Und hinter dem Fragezeichen steht eine dicke »35«, eine »42«, eine »58« ... Keine Telefonnummern, keine Adresse, nichts weiter.

Nun ist man angekommen in Klein-Jerusalem. Und man kann von Glück reden, dass diese Tafel noch dreisprachig ist. Die meisten Hinweisschilder, Plakate, Reklametafeln in der Puschkinstraße sind in hebräischer Sprache. Hier ist das Zentrum der ukrainischen Chassiden. Die Bedeutung dieser Pilgerstätte geht weit über die Grenzen der Ukraine hinaus. Die Chassiden sind Anhänger einer jüdischen Glaubensrichtung, deren geistiger Vater, Rabbi Nachman, 1810 in Uman verstorben ist und dort begraben wurde.

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Von chassidischen Juden in aller Welt wird Rabbi Nachman als Zaddik, als Gerechter, verehrt. Unter ihm fand der Chassidismus zu einer letzten Blüte. Er steht für eine weit zurückreichende jüdische Mystik. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat viele Geschichten Nachmans veröffentlicht. An seinem Grab ist ein riesiger Stein, dessen Energie jedes Jahr Zehntausende von Chassiden aus aller Welt anzieht.

Zwei Eingänge gibt es zur Pilgerstätte, einem Haus mit dem Grab des Rabbis, eine für Frauen und eine für Männer. Beim Betreten des für die Männer bestimmten Gebetsraumes werden diese aufgefordert, ihre Kopfbedeckung nicht abzulegen. Während einige mit Gebetstüchern auf dem Kopf in sich versunken halblaut beten, gehen andere geschäftig durch den Raum. Wieder andere unterhalten sich mit Besuchern, erklären diesen das Wesen des chassidischen Glaubens.

Während des jüdischen Neujahrsfestes im Herbst strömen Tausende Besucher in die Stadt, auch im Krieg. Und in diesen Tagen hört man auf den Straßen mehr Hebräisch und Jiddisch als Ukrainisch und Russisch. Viele Restaurants, Geschäfte und Hotels setzen an Rosh Hashana mehr um als in der restlichen Zeit des Jahres.

Ohne den russischen Überfall vom 24. Februar 2022 hätte die Stadt 2022 und 2023 sicherlich neue Besucherrekorde verzeichnen können. Ein Hotel in der Puschkinstraße hatte bereits vorsorglich zwei Hubschrauberlandeplätze auf seinem Dach bauen lassen. Viele Einwohner von Uman räumen für die Dauer des jüdischen Neujahrsfestes ihre Wohnungen, weil sie diese dann zu hohen Preisen an wohlhabende ausländische Besucher untervermieten. Nicht immer sind die Besucher mit dem angebotenen Preis zufrieden.

Hier, im jüdischen Viertel, tragen die meisten Männer Kippa, ihre Gesichter zieren Schläfenlocken, die »Pejot«, und sie haben ein Gebetstuch auf dem Kopf. »Mit der Zahl auf dem Hinweisschild hat es folgende Bewandtnis«, erklärt die Reiseführerin Liana Rodnikowa: »Die Juden teilen alle Wohnorte in Sektoren ein. Auch diese Straße hier ist auf jüdischen Karten in Sektoren eingeteilt.« Jüdische Gäste der Stadt, so Rodnikowa, geben, wenn sie einen Krankenwagen oder ein Taxi rufen, der Telefonzentrale nur die Nummer des Sektors durch, in dem sie sich aktuell aufhalten. Und die Taxifahrer müssen also, wenn sie Geschäfte mit den jüdischen Besuchern machen wollen, die Einteilung der Stadt Uman in Zonen auswendig lernen.

Immer mehr Juden zögen nach Uman, erzählt Liana Rodnikowa, was mehrere Gründe hat: Zum einen wollen sie in Israel keinen Kriegsdienst leisten. Das Tötungsverbot nehmen sie ernst. Zum anderen wollen sie nahe am Grab von Rabbi Nachman leben. In der Vergangenheit habe es immer wieder Konflikte zwischen einheimischer Bevölkerung und Chassiden gegeben. Vielen Einheimischen stößt auf, dass sich die israelischen Chassiden mit einem Aufenthalt in Uman dem Kriegsdienst in Israel entziehen, aber gleichzeitig ihre Männer, Söhne und Väter eingezogen werden. Der aktuelle Krieg in Israel scheint die Gesellschaft von Uman allerdings nicht noch zusätzlich zu polarisieren. »Wir haben unseren eigenen Krieg«, meint eine Einwohnerin lapidar.

Uman ist seit 400 Jahren ein Zentrum des jüdischen Lebens. Hier war vor 130 Jahren die erste jüdische Schule eröffnet worden. Lange waren die Juden in Uman die Mehrheit und beeinflussten mit ihrer Kultur auch die Nichtjuden. Die Musik spiele für die Chassiden eine besondere Rolle, erzählt Liana Rodnikowa. Hier gebe es kaum ein Haus, in dem nicht ein Klavier, eine Geige oder ein Akkordeon stehe. Außerdem prägt das jüdische Essen die Stadt. Auch die Reiseführerin, die selbst Christin ist, sagt: »Mir ist klar geworden, dass koschere Ernährung gesund ist.« Deswegen versuche sie auch nach koscheren Regeln zu leben.

Aber koscheres Essen ist teuer. Viele können sich das wegen der niedrigen Löhne nicht leisten. Doch das muss nicht so sein, haben sich Baruch und Adele Bawly gesagt. In einer Seitengasse der Puschkinstraße Nr. 25 haben sie ein Restaurant eröffnet. Direkt am Eingang ein Schild: »Restaurant Shtetl« steht darauf. Und wer, dem Schild folgend, in den Keller geht, wird von Liedern wie dem russisch-jüdischen »Tumbalalaika« oder »Hava Nagila« und dem Duft von delikaten Speisen empfangen. Hier kann man koschere Gerichte wie Hummus, kernlose Zimus-Trauben, Forshmak-Heringe, Falafel in Pita oder eine Suppe bestellen. Im Krieg ist das Kellerlokal noch einmal besonders beliebt, bietet es doch Schutz vor Raketen.

Den russischen Angriff hat man in Uman direkt zu spüren bekommen. Doch Flucht kam für die Bawlys nicht infrage. Vielmehr versorgten sie in den ersten Kriegsmonaten, unterstützt von Freiwilligen und der Rabbi-Nachman-Stiftung, Binnenflüchtlinge mit koscherem Essen.

Die beiden waren vor sieben Jahren von Krementschuk nach Uman gezogen, weil sie dem Grab von Rabbi Nachman nah sein wollten. Insgesamt, meinen sie, sei das gesellschaftliche Klima in Uman härter als in Krementschuk. Hier zähle man nur etwas in der Gesellschaft, wenn man Erfolg habe. In Krementschuk sei das anders gewesen.

»Ich habe nichts gegen Deutschland«, sagt Baruch Bawly auf Deutsch zu mir, obwohl der vergangene Zweite Weltkrieg seine Familie sehr getroffen hat. Ein Opa sei in Epatoria auf der Krim mit anderen Menschen in ein Gebäude eingesperrt worden, erzählt er. Dies sei dann angezündet worden. Alle seien darin verbrannt. Er verstehe, dass die heutige Generation der Deutschen den Holocaust nicht zu verantworten habe. »Aber dass es wieder Menschen und Parteien in Deutschland gibt, die dem Faschismus huldigen, finde ich schlimm.«

Mehrfach wurden die Juden von Uman Opfer von Pogromen. Bei einem Massaker 1768 während des Kolijiwschtschyna-Aufstandes wurden Tausende von Juden und Polen ermordet. Nachdem die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Uman besetzt hatten, wurden am 15. September 1941 alle Juden des Gettos von Uman auf einem Platz versammelt. Man werde sie nach Palästina schicken, hatte man ihnen gesagt. Doch auf dem besagten Platz angekommen, brachte man sie zu einem Ort namens Suchyj Jar. Dort wurden sie alle ermordet. Zwischen halb neun am Morgen und halb fünf am Nachmittag erschossen Soldaten Tausende Juden. Die genaue Zahl ist nicht bekannt.

Der ältere Herr mit Schirmmütze, Gehstock und der Hornbrille bleibt auf dem Fußweg sofort stehen, als ich ihn mit einem »Guten Tag, können Sie mir bitte sagen, wie ich zur Straße Komarow Nummer 25 komme« anspreche. Bei dieser Adresse kommen Bewohnern von Uman unwillkürlich Bilder eines brennenden Hochhauses, Rauch und Schreie von verletzten und sterbenden Menschen in den Sinn.

Der 28. April 2023 war der schwärzeste Tag in der jüngsten Geschichte der Stadt. Am Morgen dieses Tages kamen 23 Menschen ums Leben, als eine russische Rakete in einem neunstöckigen Haus in der Komarowstraße einschlug. Unter den Getöteten seien sechs Kinder gewesen, berichtet Julia Norofkowa von der Feuerwehr.

Inzwischen inspizierten Architekten die Ruine. Man werde das Haus wieder aufbauen, sagt Oleg Ganitsch, stellvertretender Bürgermeister von Uman. Der Raketeneinschlag in der Komarow 25 sei der dritte in Uman gewesen, berichtet er. Die anderen beiden hätten glücklicherweise keine Opfer gefordert.

Doch auch ohne direkten Raketenbeschuss spüre man die Folgen des Krieges, so Granitsch. Viele Fachleute seien ins Ausland geflohen, andere an die Front gegangen. Einige Firmen mussten schließen, weil sie keine Arbeitskräfte finden konnten. Und die Überlebenden des Raketeneinschlags in der Komarowstraße sind unzufrieden, weil ihnen der Bau von neuen Wohnungen nicht schnell genug vorangeht.

Beim Verlassen der Stadt kommt man nur wenige hundert Meter von der Komarowstraße entfernt am weltbekannten Park »Sofijiwka« vorbei. Er ist nicht nur ein Erholungsort für Touristen und Alltagsgestresste. Hier ist auch ein dendrologisches Forschungszentrum angesiedelt, in dem Blumen gezüchtet werden. Über 700 verschiedene Rosenarten gibt es. Die wichtigste Aufgabe der Anstalt ist es inzwischen, Pflanzen zu züchten, die dem Klimawandel trotzen, beziehungsweise importierte Pflanzen an die ukrainischen Gegebenheiten anzupassen. In Uman denkt man schon an die Herausforderungen der Zeit nach dem Krieg.

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