Drei Mal Medea

Die Barocktage der Staatsoper boten drei ganz unterschiedliche Interpretationen des antiken Stoffs

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 9 Min.
Sonya Yoncheva als Medea an der Staatsoper Berlin
Sonya Yoncheva als Medea an der Staatsoper Berlin

Der Mythos von und um Medea gehört zu den bekanntesten Stoffen der Weltliteratur, wurde (und wird) aber immer auch musikalisch aufgegriffen und interpretiert. Drei dieser Varianten als Opern beziehungsweise als Melodram präsentiert die Staatsoper Unter den Linden im Rahmen der Barocktage und ermöglicht so ein intensives und bereicherndes Eintauchen in den alten griechischen Stoff.

»Medea« ist ein Monsterdrama, eine der gewalttätigsten Tragödien der griechischen Antike. Medea wurde darin lange als die zerstörerische weibliche Kraft gesehen, als eine Furie, als gefährliche Zauberin, die ihren Vater, Bruder, die Geliebte und zukünftige Gemahlin ihres Mannes und sogar, von Euripides dem Mythos hinzugedichtet (anders würde sein Drama nicht funktioniert haben), ihre Kinder ermordet. Warum nur? Aus rasender Eifersucht, aus purer Zerstörungswut und Barbarei? Im Drama von Euripides, im Jahr 431 v. Chr. in Athen uraufgeführt, beim Publikum gescheitert und von Aristoteles in seiner Poetik besonders ob des Schlusses, des ersten »Deus ex machina« der Weltliteratur, scharf kritisiert, sehen wir Medea als Frau, die mit großer Leidenschaft und Konsequenz liebt und von ihrem Ehepartner unbedingte Loyalität einfordert. Der jedoch handelt ebenfalls skrupellos: Jason wird von Euripides als ein karrieristischer Opportunist dargestellt, dem königlicher Besitz und materielle Versorgung an erster Stelle stehen. Die Medea des Euripides liefert sich ihrer Leidenschaft bewusst aus: »Und ich erkenne, was für üble Taten ich begehen will, doch stärker als meine Einsichten ist die Leidenschaft (thymós).« Thymos, der antike Zentralbegriff, mal als Wut oder Zorn, jedoch eigentlich viel mehr als Leidenschaft oder Kraft zu verstehen. Und eben dieser »Thymos« ist es, der, neben ihren zauberischen Fähigkeiten, Medea schon bei Euripides zu einer starken und mächtigen Frau macht. Eine Art Systemsprengerin.

Was davon ist in den drei Medea-Werken, die jetzt in Berlin zur Aufführung kamen, zu erfahren? Glanzvoll war die Premiere der »Medea« von Marc-Antoine Charpentier, und zwar vor allem aufgrund ihrer musikalischen Qualität. Ein herausragendes Sänger:innen-Ensemble mit der wunderbaren Magdalena Kožena in der Titelrolle, deren Gesang geradezu lodert; die ihr nicht nachstehenden Carolyn Sampson (Créuse), Reinoud Van Mechelen als Jason, der die von Charpentier fast ironisch als schwächlich hoher Tenor gezeichnete Rolle sehr gut meistert; der großartige Luca Tittoto als König Créon, der sich im Laufe der Oper zunehmend als eigentlicher Gegenspieler von Medea herausstellt und diese Rolle auch schauspielerisch wirkungsvoll annimmt; der sensationelle und völlig zu Recht bejubelte Staatsopernchor und dazu das Freiburger Barockorchester unter der gewieften Leitung von Sir Simon Rattle – das war eine sensationelle Besetzung, die alle Erwartungen erfüllt und Charpentiers meisterhafte Kolorierung exzellent umgesetzt hat. Wie das Orchester am Ende des Dritten Akts die Beschwörung der Unterwelt durch Medea, die von den Dämonen Beistand erfleht, mit dunklen Pianissimo-Klängen umsetzt, war ergreifend. Und die Wahnsinnsszene des Kreon im Vierten Akt („Schwarze Götter, was wollt ihr von mir?), in der nur die tiefen Streichinstrumente aufgeteilt agieren, um den Abgrund darzustellen, in den es alle in Lügen verstrickte Handelnden herabreißen wird, ist erschütternd. Da mag es verzeihbar sein, dass Rattle kein ausgewiesener Barockdirigent ist und eher einen flächigen Sound bevorzugt.

Gerade im letzten Akt, in dem Créuse verbrennt und ihr Leben geradezu aushaucht, die Kinder sterben und alles zerfällt, ist das ganze Ensemble »on fire«. Der Chor singt ein großes Klagelied: »Was ist aus unserem Land geworden? Woher kommt dieser ganze Hass? Wir haben falsche Götter angebetet. Wir müssen aufhören, falsche Götter zu verehren. Wir leben in einer Welt, die unmenschlich und ungerecht ist.« Hier kommt die Inszenierung von Peter Sellars mit einfachsten Mitteln ganz zu sich und ist plötzlich von größter Intensität.

Das kann man leider vom ersten Teil, den ersten drei Akten nicht sagen. Da ist Sellars Inszenierung komplett misslungen. Sellars versucht uns weißzumachen, dass Medea und ihre Kinder in einem »Internierungslager« festgehalten werden und dort auf den »drohenden Abschiebungsbefehl« warten, so Sellars in seiner Handlungs-Beschreibung im Programmheft. Als ob eine Königstochter in einem fremden Land in einem »Internierungslager« untergebracht würde und nicht zum Beispiel in einem entlegenen Teil des Palastes. Er lässt Medea die ersten Akte in einem Käfig agieren, außen von zwei Wächtern mit Maschinengewehr und in martialischer Aufmachung bedroht. In einer Szene spielt Sellars gar auf Guantanamo an, indem er Medea in einen orangefarbenen Overall kleidet und die Wächter ihren Kopf mit einem schwarzen Tuch bedecken lässt – eine deplatzierte Erinnerung an die bekannten ikonischen Bilder. Sellars versucht, Medea als Teil der weltweiten prekären Flüchtenden-Bewegung unserer Tage zu beschreiben, auch, indem im Programmheft die von Leisy J. Abrego vermittelte, tragisch-anrührende Geschichte einer guatemaltekischen Frau geschildert wird, die mit ihren beiden Kindern unterwegs in die USA war. Aber Medea ist eben nicht eine dieser tragischen und entrechteten Migrant:innen unserer Tage, sondern eine Königstochter mit wohl auch göttlichem Background im Exil. Derartige Klassenunterschiede scheinen Sellars fremd zu sein.

Viele Szenen sind völlig unlogisch (warum sollte die Zauberin Medea sich in einem Käfig einsperren lassen? warum sollte der König Kreon zu ihr an den Käfig kommen, um mit ihr zu debattieren?) und zudem in ihrer Simplifizierung ausgesprochen hölzern. Er zwingt Magdalena Kožena zu absurden Verrenkungen, häufig an das Käfiggitter geklammert. Die Gespräche zwischen Medea und Jason oder zwischen ihr und Kreon werden uninspiriert als Talkshow-ähnlicher Debattierklub inszeniert. Die Geister üben sich im Ausdruckstanz. Dann lässt der Regisseur völlig absurd einen mächtigen Raketenwerfer ins ansonsten von Frank Gehry sparsam kreierte Bühnenbild einfahren, auf dem der Krieger Oronte postuliert, »die mächtigste Kraft der Welt« sei »die Liebe«.

Natürlich geht es bei Medea, sei es bei Euripides, bei Charpentier oder bei Cherubini, auch um das große Thema Asyl, um Vertreibung und Exil, die wie die Themenkomplexe »Recht« und »Rache« den politischen Unterbau aller Medea-Versionen bilden. Am deutlichsten wird das bei Cherubini beziehungsweise im Libretto von François-Benoit Hoffman (1797). Dort fragt Kreon Medea: »Mit welchem Recht, welcher Dreistigkeit, fremd und schuldbeladen, wagt ihr, in mein Land einzudringen?« Medea antwortet ihm mit den Worten, um die alle Migrant:innen wissen: »Mit dem Recht der Unglücklichen, die das Schicksal bedrückt.« Später wird Kreon deutlicher in seiner grausamen Ablehnung, Medea Asyl zu gewähren: »Ich verbanne euch, verlasst mein Land! Wäre ich gerechter, müsste ich euch das Leben entreißen! (…) Flieht schleunigst, verlasst Korinth.« Medea dagegen barmt: »Ach, gewährt Medea wenigstens ein Asyl«… In ihrer großen Arie beschwört Medea: »Alles habe ich geopfert: Fremd werde ich heute der ganzen Welt.« Doch Kreon bleibt so hartherzig wie ScholzKretschmannMerz in unseren Tagen: »Verlasst mein Land! Nichts kann mich beugen. (…) Zittert: Ich lasse euch grausam sterben, findet der morgige Tag euch in meinem Land.«

Dies wird in der feinfühligen Inszenierung Cherubinis »Medea« von Andrea Barth ausgezeichnet inszeniert. Anders als Peter Sellars, der uns seine Message mit dem Holzhammer einzubläuen sucht, findet diese Regisseurin überzeugende Bilder und gelangt zu einer fesselnden Sprachregie. Auch bei der Wiederaufnahme der Neuinszenierung von Cherubinis »Medea« (2018) erleben wir ein herausragendes Ensemble, wobei der wieder hinreißende Staatsopernchor, vor allem aber die Akademie für Alte Musik Berlin (Akamus) unter der Leitung des Barock-Könners Christophe Rousset restlos überzeugen. Und Marina Rebeka ist schlicht eine sensationelle Medea, die man so schnell nicht vergessen wird – und die natürlich auch von Cherubinis Meisterschaft in der musikalischen Darstellung, einem Psychogramm seiner Hauptfigur mit den Mitteln der Wiener Klassik, profitiert. Cherubini und Marina Rebeka spiegeln die seelischen Zustände Medeas in all ihrer mitunter verstörenden Vielfalt. Doch vor allem die Gradlinigkeit, mit der das Geschehen abläuft und in die Katastrophe mündet, war dem zeitgenössischen Publikum nicht geheuer, die Oper floppte, auch wenn sie immer wieder von Kennern geschätzt wurde wie von Carl Maria von Weber oder von Johannes Brahms (»Medea hat mich wieder ungemein gepackt«, »dies herrliche Werk« schreib er 1871 an den Dirigenten Hermann Levi). Erst durch die Interpretation von Maria Callas in den frühen 1950er Jahren geriet das Werk wieder in den Blickpunkt der Opernszene.

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In Cherubinis Oper können wir auch eine erste Revidierung des antiken Medea-Bildes erleben. Wenn Kreon ihr »Totschlag, Gift, Brudermord, es gibt kein Verbrechen, das euch fremd wäre« vorhält, erwidert sie selbstbewusst: »Warum behaltet Ihr den Lohn dieser Verbrechen?« Sie spielt auf das geraubte Goldene Vlies an – ein frühes Beispiel von Raubkunst, das Jason nur mit Hilfe von Medea gestohlen und Kreon geschenkt hat, um von diesem Asyl und dessen Tochter zur Frau zu erhalten.

Cherubini schildert Medea letztlich als Opfer eines gewalttätigen Patriarchats und feiert seine Heldin, die aus einer anderen Welt, aus dem Untergrund (»the underground«, Curtis Mayfield…) kommt und »gegen die Oberwelt, gegen jenen etablierten Fortbau, gegen das musikalisch gestützte, herrschaftliche Konstrukt enorm destruktive Kräfte entwickelt« (Günter Ned, abgedruckt im sehr empfehlenswerten Programmbuch der Staatsoper). Was Cherubini nur andeutet, führt im zwanzigsten Jahrhundert zu einer gewissermaßen feministischer Neudeutung Medeas, etwa bei Sylvia Plath: »Die Frau ist vollendet. Ihr toter Körper trägt das Lächeln des Erreichten«. Und noch deutlicher und grimmiger in Heiner Müllers »Medeamaterial« (1982): »Für dich/ hab ich getötet/ und geboren/ Ich deine Hündin/ deine Hure ich/ Ich Sprosse auf der/ Leiter deines Ruhms.«

Und hier sind wir bei der eigentlichen Überraschung dieser Barocktage, bei der konzertanten Aufführung des Melodrams von Georg Anton Benda mit dem Text von Friedrich Wilhelm Gotter von 1784 im Pierre Boulez Saal. Georg Anton (eigentlich Jiri Antonín) Benda stammte aus einer böhmischen Musiker-Dynastie und stieß 1742, dem Jahr, in dem das Königliche Opernhaus Unter den Linden eröffnet wurde, zur Preußischen Hofkapelle in Berlin, wo er als Musiker reüssierte, ehe er in Gotha zum »Kapelldirector« ernannt wurde. Bendas »Medea« ist ein ganz erstaunliches Werk – und hier steht (fast) nur noch Medea im Mittelpunkt. Das Melodram ist eine Art Soloshow für eine Sprecherin als Medea, deren Aussagen von einem Kammerorchester (wieder wie schon bei Cherubini phänomenal: Akamus unter der Leitung von Bernhard Forck) unterstrichen, kommentiert und verstärkt werden. Großartig, wie Meike Droste (ja, die Polizeimeisterin Bärbel Schmied aus der Fernsehserie »Mord mit Aussicht« – aber auch die mit dem deutschen Theaterpreis »Der Faust« ausgezeichnete Theaterschauspielerin) hier mit bloßer Sprache und unterstützt von musikalischen »Zwischensätzen«, wie Benda sie nannte, die Emotionen und Reflexionen einer Verfemten, einer selbstquälerisch Unglücklichen darstellt. Eine wunderbare Entdeckung! Man wünscht Bendas »Medea« und seinen anderen Werken vermehrte Aufführungen.

Die drei jeweils auf ihre Art spannenden Berliner »Medeas« geben einen guten Einblick in die antike Mythenwelt, die auch und vielleicht gerade heute eine unverminderte Auseinandersetzung wert sind. Der Staatsoper Unter den Linden kann dafür nicht genug gedankt werden. Und vielleicht kann die Auseinandersetzung mit der so faszinierenden wie verstörenden Liebenden, Flüchtenden und Rächenden in den nächsten Jahren durch Aufführungen der entsprechenden Bühnenwerke zum Beispiel von Darius Milhaud, Mikis Theodorakis oder Aribert Reimann fortgeführt werden.

Nächste Vorstellungen: Charpentier am 30.11. und 2.12; Cherubini am 1.12. und 3.12.

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