Paul Austers »Baumgartner«: Lebenslänglich Sätze machen

Paul Auster legt mit »Baumgartner« ein großen Roman übers Abschiednehmen vor

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
Stoff aus seinem eigenen Leben zu verwenden, kennt man aus zahlreichen Werken von Paul Auster.
Stoff aus seinem eigenen Leben zu verwenden, kennt man aus zahlreichen Werken von Paul Auster.

»Sie war die einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe, und nun muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann.«

Liebe, Verlust, Trauer, Erinnerung, Einsamkeit, Alter, Sterblichkeit: Um diese Themen mäandert Paul Austers neuester, memoirenhafter Kurzroman »Baumgartner«. Es ist unmöglich, ihn nicht in Verbindung mit der Krebserkrankung zu lesen, die Ende vergangenen Jahres leider bei Auster diagnostiziert wurde. Seine Ehefrau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt machte publik, dass sie gemeinsam mit ihrem Mann im »Krebsland« lebe.

In Austers Roman, in dem der Autor und Phänomenologe Baumgartner auch nach einem Jahrzehnt noch um seine bei einem Badeunfall verstorbene Ehefrau trauert, sind diese Rollen in gewissem Sinne vertauscht. Stoff aus seinem eigenen Leben zu verwenden, zu fiktionalisieren und in seinen Büchern immer wieder variantenreich zu verwenden, kennt man aus zahlreichen Werken Austers. So erzählt er beispielsweise in seinem zuletzt erschienen, 2017 für den Booker-Preis nominierten Bildungsroman »4 3 2 1«, wie sich das Leben seines Alter Egos Archie Ferguson auf vier verschiedene Weisen hätte entwickeln können.

Austers Baumgartner nun vermisst schmerzlich die morgendlichen Tippgeräusche seiner Frau Anna Blume, die ihre Übersetzungen und Gedichte stets auf ihrer Schreibmaschine schrieb. Auster-Fans wissen, dass es bei dem Schriftstellerehepaar genau andersherum ist: Paul schreibt seine Bücher immer noch auf seiner uralten Olympia. Und eine gewisse Anna Blume tauchte bereits in anderen Romanen Austers auf. Und es ist seine Ex-Frau Lydia Davies, die Lyrik schreibt und übersetzt. Austers virtuoser Umgang mit biografischem Material bringt nicht weniger als Roman für Roman die Grundfesten der Realität gehörig zum Wanken. Dahinter erspürt man ein Königreich von wahrem Bestand: Die Welt der Geschichten.

Sein 18. Roman beginnt furios, beinahe slapstickhaft: Der 71-jährige Sy Baumgartner will eigentlich nur ein Buch aus einem anderen Zimmer holen. Dabei verbrennt sich der Philosophieprofessor, der gerade noch an einer Monografie über Kierkegaard schrieb, an einem vergessenen Topf auf dem Herd. Kurz darauf steht die UPS-Botin Molly mal wieder mit einem Paket Büchern vor der Tür, die Sy nur bestellt, weil Molly ihn energetisch an seine verstorbene Frau erinnert. Wenig später muss er die kleine Tochter der Putzfrau am Telefon trösten, da ihr Vater sich zwei Finger abgesägt hat, daraufhin klingelt es an der Tür und ein unheimlich netter, junger Mann will seinen Zählerstand ablesen. Als er mit ihm in den Keller hinuntergehen will, stürzt Baumgartner die Treppe runter.

Infolge der Ereignisse begreift der von Trauer paralysierte Witwer endlich: »Leben heißt Schmerz empfinden und in Angst vor Schmerz zu leben, heißt das Leben verweigern.« Baumgartner liest nun die Kurzgeschichten seiner verstorbenen Frau: Die eine handelt von ihrer ersten großen Liebe Frankie Boyle, die zweite davon, wie Sy und sie sich kennengelernt haben. Er beschließt, posthum eine kleine Auswahl der Gedichte seiner Frau herauszubringen.

Und dann – Gänsehautmoment – klingelt wieder einmal ein Telefon in einem von Austers Romanen. Es ist das abgemeldete Gerät im Arbeitszimmer seiner verstorbenen Frau. Sie erzählt ihm von ihrer »sich selbst bewussten Nichtexistenz« nach dem Tod, die auf ihre tiefe Verbundenheit mit ihm zurückzuführen ist. Diese beinahe religiöse Erfahrung gibt Baumgartner die Freiheit, sich nicht mehr nur in Erinnerungen zu verlieren.

Er beschließt, »seine Kräfte ganz auf die Gegenwart zu richten«, und wagt es sogar, sich auf eine neue Partnerin, eine sehr gute Freundin Annas einzulassen. Doch am Ende scheitert die Beziehung mit der 16 Jahre jüngeren Judith und Baumgartner setzt sich hin und schreibt eine ergreifende Fabel über das Leben eines Schriftstellers, der dazu verurteilt wurde, »lebenslänglich Sätze zu machen«. Später verfasst er noch eine mysteriöse Geschichte über seinen Besuch in der Ukraine, wo sowohl Baumgartner als auch Auster Ahnen haben. Die Fabel endet mit den Worten, dass er stets dem Dichter glaube.

Gegen Ende des Romans kündigt sich auch noch eine gewisse Beatrix Coen an, die über Annas in großen Teilen unveröffentlichtes Gesamtwerk eine Doktorarbeit schreiben möchte. Baumgartner ist begeistert, kann ihre Ankunft kaum abwarten, doch noch bevor sie endlich bei ihm aufschlägt, nimmt die Geschichte noch ein letztes Mal eine dramatische Wendung, deren Ausgang jenseits des Romans liegt. Meisterhaft, aber auch mit großer Leichtigkeit spielt Auster in diesem anspielungsüberreichen Bändchen wieder einmal mit autobiografischem Material und Fiktion, merkwürdigen Zufällen und Abstechern in surreale Welten und vermag damit erneut, fantastische, schwarze Löcher in unsere Realität zu brennen.

Wie sagte einst noch Kierkegaard, an dessen Monografie Baumgartner zu Beginn dieses altersweisen Romans schrieb: »Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.« Darin liegt die Magie von Geschichten.

Paul Auster: Baumgartner. A. d. Engl. v. Werner Schmitz. Rowohlt, geb., 208 S., 22 €.

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