Auf der Suche nach der normalen Zeit

Wer uns etwas von Krisen erzählt, will meistens von ihnen profitieren, meint Leo Fischer

»Krisenmodus« ist das Wort des Jahres 2023: So teilte es die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden mit. Unsere Welt, begründete die Geschäftsführerin, befinde sich seit 2020 im »Krisenmodus« – Belege sind ihr die Corona-Pandemie, der Überfall Russlands auf die Ukraine, die Energiekrise, die Bildungsmisere und der Hamas-Angriff auf Israel.

Das ist natürlich alles wahr und richtig – noch nie hatte man das Gefühl, derart intensiv an derart vielen welthistorischen Ereignissen teilzunehmen, auf die man gut und gerne auch verzichten könnte. Doch war es jemals anders? Leicht könnte man mit der immanenten Krisenhaftigkeit des Kapitalismus antworten, dem permanenten Ausnahmezustand, den er zwingend für seine Reproduktion benötigt, und die neuen Krisen als reine Fortsetzungen dieses Prinzips deuten. Die vergangenen vier Jahre aber bloß als ewige Wiederkehr des Gleichen zu behaupten, hätte auch etwas Vermessenes.

»Krisenmodus« suggeriert in jedem Fall: Es gab auch mal den Normalmodus. Es gab einmal eine »normale« Zeit, in der Weltgeschichte wohldosiert stattfand, einmal im Jahrzehnt und nicht im Halbjahrestakt. In dieser Zeit waren unsere Laufbahnen geordnet, wir bekamen unser Brötchen noch für 30 Cent und erfuhren alles Wichtige aus dem Videotext. Für wen das so war und ob das alles, aufs Weltganze bezogen, nicht die große Ausnahme war statt der Normalität, das wird durch den Begriff natürlich verdeckt.

Leo Fischer

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der aufgeregten Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft

Krisenmodus bedeutet letztlich: Eine kleinbürgerliche Existenzform schützt nicht mehr vor den Zumutungen des Weltgeschehens. Die Einschläge kommen näher. Als Krise wird nicht das reale Leid erlebt, das so präsent wie immer über die Bildschirme flackert, sondern, dass das Unglück direkt in die gute Stube tritt. Ein Ausweichen ist nicht mehr möglich: Der Strom wird teurer, das Restaurant nebenan schließt, und die Regierung will irgendwas mit meiner Heizung machen. Der Unterschied zum Leben vor dem Krisenmodus ist, dass die Weltmächte quasi bei mir im Wohnzimmer stehen, mich zum Gassparen zwingen, beim Renovieren schikanieren, mir die Urlaubsplanung versauen oder Zugreisen stornieren wollen.

Die Krise ist der Zugriff der Welt aufs scheinbar Private, aufs Glück im Winkel, das Neo-Biedermeier. Man hat an Angela Merkels Regierungsstil betont, dass sie es stets verstand, die Welt von den Bürger*innen fernzuhalten: Politik war etwas, was anderen zustieß, nicht mir. Meinem privaten Fortkommen, das war Merkels performatives Versprechen, könne die Welt nichts anhaben. Auch deshalb hat das Heizungsgesetz den Grünen so sehr geschadet: Plötzlich hatten Zehntausende das Gefühl, Habeck persönlich stünde im Raum, um den alten Gasofen zu demontieren.

So gesehen hat die Rede von den »gegenwärtigen Krisen« immer auch etwas Reaktionäres. Diejenigen, die mit besonderem Eifer von ihnen sprechen, nutzen die Krisen gleichsam als Freibrief aus, als einen winzigen Notstand, der ihnen besondere Vollmachten garantieren soll. Die Erfolge der AfD beruhen nicht zuletzt darauf, dass sie gleichzeitig auf ein diffuses Vorher anspielt – es gab mal ein »normales« Deutschland –, aber auch eine besondere Notsituation behauptet, die harte Eingriffe nötig mache. Wer uns also etwas von der Krise erzählt, will meistens auch ein wenig von ihr profitieren.

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