Grenzkontrollen in Brandenburg: Fragwürdige Zurückweisungen

245 Menschen wurden im Oktober an Brandenburgs Grenze zu Polen von der Polizei zurückgewiesen, die meisten stellten angeblich keinen Asylantrag

421 Menschen hat die Bundespolizei im Oktober an der polnisch-deutschen Grenze zurückgewiesen, 245 davon fanden an der brandenburgischen Grenze zu Polen statt. Im September waren es noch zwei, im August drei. Die Zahlen hat die Behörde »nd« auf Anfrage zur Verfügung gestellt. Sie zeigen: Die im Oktober installierten Grenzkontrollen wirken – und zwar zu lasten Geflüchteter. Denn das Recht auf Asyl lässt sich dadurch einfach aushebeln.

Eine Zurückweisung erfolgt, wenn die für Deutschlands Grenzen zuständige Bundespolizei eine unerlaubte Einreise feststellt und die betreffende Person zur Ausreise zwingt oder an der Einreise hindert. Menschen auf der Flucht können zurückgewiesen werden, wenn ein Einreiseverbot etwa nach einer bereits erfolgten Abschiebung besteht oder wenn sie nach dem Grenzübertritt weder gültige Reisepapiere vorlegen können noch Asyl beantragen. »Das dürfte nicht die Regel sein«, sagt Andrea Johlige, migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Brandenburger Landtag. »Die Gefahr ist immer da, dass da Recht gebeugt wird.« Was sie damit meint und nicht so klar ausspricht: Bei derart vielen Zurückweisungen liegt der Verdacht nahe, dass auch Menschen, die eigentlich Asyl suchen, nicht zu ihrem Recht kommen.

Tatsächlich nennt die Bundespolizei als Hauptgrund für die Zurückweisungen im Oktober ein fehlendes Asylgesuch. In 387 von 421 Fällen wies sie die Menschen zurück, weil sie entweder kein gültiges Reisedokument, Visum oder Aufenthaltstitel vorweisen konnten – und zumindest offiziell kein Schutzgesuch stellten. Denn eine Zurückweisung trotz Asylantrag wäre rechtswidrig.

Aus einer Tabelle der Bundespolizei geht hervor, aus welchen Ländern die im Oktober an der polnischen Grenze zurückgewiesenen Menschen stammen. Die meisten von ihnen, 84 Personen ingesamt, haben eine ukrainische Staatsangehörigkeit, dicht gefolgt von 79 Personen indischer und 78 Personen syrischer Nationalität. 31 stammten aus der Türkei, 30 aus Bangladesch, 23 aus dem Iran und 18 aus Georgien; acht Personen jeweils aus Afghanistan und Jemen.

Die unterschiedlichen Herkunftsländer haben eines gemeinsam: Die Lebensbedingungen dort zwingen manchen Menschen zur Flucht. Sei es wegen Krieg wie in der Ukraine, Syrien und dem Jemen, sei es wegen der Verfolgung von Minderheiten und diktatorischen Zuständen wie in der Türkei und dem Iran, sei es wegen Naturkatastrophen, Armut, Perspektivlosigkeit – dass Menschen aus diesen Ländern in Deutschland Asyl beantragen wollten, scheint nicht ausgeschlossen.

Das bestätigt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl. »Gerade mit Blick auf die Herkunftsländer sieht man, dass es Menschen sind, die sonst häufig in Deutschland Asyl beantragen. Da ist es schon irritierend, wenn sie zurückgewiesen werden.« Pro Asyl seien Fälle etwa von der deutsch-österreichischen Grenze bekannt, wo Geflüchtete aus Syrien Asyl beantragen wollten, es aber nicht konnten. Hier rechtswidriges Handeln auf Seiten der Bundespolizei gerichtlich festzustellen, sei aber schwierig. Dafür brauche es die Aussagen und den Willen der Betroffenen. »Die sind aber meistens nicht mehr in Deutschland und haben in dem Moment wichtigere Probleme, oder der Kontakt bricht ab.«

Ob rechtswidrig oder nicht – »aus unserer Sicht ist die Praxis das Problem«, sagt Judith. Die Bundespolizei mache es den Einreisenden oftmals schwer: »Wir wissen, dass die Bundespolizei nicht nach einem Asylgesuch fragt, die Betroffenen müssen das aktiv nennen.« Doch dafür müssten sie den Uniformierten Vertrauen – nicht selbstverständlich, wenn sie als Beschuldigte der illegalen Einreise befragt werden, unter Umständen in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Grenzbeamt*innen gemacht haben und zudem das deutsche Asylsystem nicht kennen.

»Selbst wenn die Person ›Asyl‹ sagt, reicht das aus Sicht der Polizei nicht«, erklärt Judith weiter. »Es heißt dann, sie müssten schon ein bisschen mehr hören.« Doch Schutzsuchende wüssten in so einer Situation ohne Informationen oder Rechtsberatung nicht, was sie sagen sollen. »Vielleicht wollen sie es den Beamten recht machen. Wenn sie dann gefragt werden, warum sie Asyl in Deutschland wollen, sagen sie, sie wollen arbeiten oder studieren, um zu signalisieren, dass sie sich integrieren wollen.« Doch so eine Aussage reiche der Bundespolizei unter Umständen aus, um den Asylantrag nicht einmal anzunehmen. Zudem erreichen Pro Asyl Berichte, dass es Probleme mit der Übersetzung gibt.

Der Verein fordert einen anderen Umgang mit vermeintlich unerlaubt Eingereisten bei Grenzkontrollen. »Wenn die Beamten wissen, da sitzt jemand aus Afghanistan, aus Jemen, aus Syrien, müsste die Grundannahme sein, dass da jemand sitzt, der Asyl sucht.«

Zurückweisungen nach Polen hält Judith für besonders bristant. Denn wie dort mit Geflüchteten umgegangen wird, ist spätestens seit den brutalen Push-Backs an der belarussischen Grenze bekannt. Wenn es Geflüchtete nach Polen schaffen, müssen sie dort weiterhin mit unmenschlicher Behandlung rechnen. »Viele Asylsuchende werden inhaftiert, die Lage in den Gefängnissen ist sehr schlimm und unserer Ansicht nach menschenrechtswidrig«, sagt Judith.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik – aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin – ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Pro Asyl fordert deshalb den Stopp von Dublin-Überstellungen von Deutschland nach Polen. Das heißt: Menschen, die bereits in Polen Asyl beantragt haben und eigentlich nach EU-Recht dorthin abgeschoben werden könnten, sollten in Deutschland bleiben dürfen. »Eigentlich müsste auch geklärt werden, ob es nach Zurückweisungen nach Polen die Gefahr menschenrechtswidriger Behandlung gibt«, so Judith.

Dass die Zahlen der Zurückweisungen an der polnischen Grenze seit Oktober stark gestiegen sind, hält Judith zwar für einen Effekt der neu installierten Grenzkontrollen. Ob die Kontrollen aber tatsächlich weniger Einreisen bewirkten, stellt sie in Frage. Hier eine eindeutige Korrelation zu vermuten, sei zu kurz gegriffen. »Fluchtbewegungen werden ja nicht nur durch Grenzkontrollen an deutschen Grenzen beeinflusst, sondern durch alles, was davor passiert.« So gehe etwa Serbien derzeit massiv gegen Schleuserbanden vor. »Dadurch stecken mehr Menschen in Serbien fest als vorher

Das betont auch Vincent da Silva vom Flüchtlingsrat Brandenburg. »Das Migrationsgeschehen ist Realität, es gibt nunmal weltweit Kriege und Notstände, die Menschen zur Flucht zwingen.« Er kritisiert die Grenzkontrollen, die von Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) energisch gefordert und schließlich im Oktober von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) beschlossen wurden, als populistische Maßnahme. »Anstatt nach nachhaltigen Lösungen zu schauen, etwa wie Bleiberecht sinnvoll ausgebaut werden kann, oder wie man mit grundlegenden sozialen Probleme umgeht, will die Landesregierung dadurch Effektivität in ihrem politischen Handeln demonstrieren.« Dabei würde Migration durch Grenzkontrollen nicht verhindert, sondern nur verlagert. »Der Druck ist da, die Leute suchen hier Schutz. Sie werden andere Routen finden und das führt nur dazu, dass die Flucht noch gefährlicher wird.«

Johlige fasst diese vorhersehbare Entwicklung drastisch zusammen: »Wer über das Mittelmeer geflohen ist, wird sich nicht von der Oder abschrecken lassen.« Von Januar bis einschließlich Oktober haben 8 143 Menschen in Brandenburg Asyl beantragt.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal