Peter Handke - Unterwegs auf dem Verlernpfad

Umlanderkundung und Dörferzeit: Das neue Buch von Peter Handke ist erschienen: »Die Ballade des letzten Gastes«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Wir leben im unerbittlichen Erklärungszeitalter. Analytiker, Experte und Kritiker lauern überall. Wo früher der seelisch Durchdrungene etwas galt, besetzen nun empathielose Eindringlinge die Plätze: der Spötter, der nur Unflat stapelt; der Ironiker, der nie Jean Paul las. Sprach die Romantik noch heiß wünschend vom Offenen, so posaunt die Moderne kalt von Entschlüsselung oder Enthüllung.

Peter Handke zu lesen, wirkt da wie eine Erlösung. Er verachtet herzlich jähzornig ein bestimmtes Zivilisationspersonal – die aktivistischen Großtuer, die Eiferer des Durchblicks, die Knechte der Begriffsfindung. Und jene mechanistischen Antwortabonnenten, die unter Weltverstehen nur immer eines meinen: Leben auf der klügeren Seite eines Widerspruchs, wo alle Gewissheiten unverrückbar sind.

Die Poesie Handkes tanzt im Widerspruch, ohne zielgierig sein zu müssen. Was sich zwischen Natur und Erzähler abspielt, gilt für Existenz überhaupt: Du bist allzeit und allseits ein Gesteigerter erst dann, wenn du den Blick der Dinge auf dir ruhen fühlst und dieses Fühlen geschehen lässt. Es geht darum, sich in die Welt hinein zu übersetzen. Bis man sich selber verständlich wird, aber nichts mehr selbstverständlich ist. Der provokante Reiz bei Handke erwächst aus einem leisen Dennoch: Aus dem Wissen darum, dass wir Verirrte und weiter Irrende sind, sprengen wir den Kreis der isolierten Existenz und gehen aufeinander zu: »Geheimnis der Ebenbürtigkeit aller auf Erden, o erhabene Anarchie!«

»Nie mehr über welche den Kopf schütteln, außer über mich selber.« So heißt es in »Die Ballade des letzten Gastes«. Gregor Werfer ist die Hauptperson. Er geht durch sein Leben als »Ein-Mann-Expedition«, ist offen für vieles, aber wird niemals dem Alleinsein untreu. Ein Geologe, arbeitend auf einem fernen Kontinent, gut versorgt, aber radikal tastend, ein Fremder im Dickicht der Betriebsamen.

Jetzt fährt er für ein paar Tage ins Dorf seiner Kindheit. Wiederbegegnung: der Vater und dessen schöne Wortlosigkeit; die Schwester ohne Mann, aber mit Säugling – eine Taufe steht an. Das einstige Dorf ist leider nur noch eine »Agglomeration«, ist zersiedelt und zerstückelt. Aus dem schönen Hinterwäldlerischen wurde der öde Anhauch einer Vorstadthässlichkeit. Die Kirchen immerhin, zu Füßen der Hochhäuser, sind nicht mehr so »alleinherrscherlich, Fingerzeige himmelwärts, wenn sie nicht gar mit dem Himmel drohten«.

Mit einem Bus war der Kurz-Heimkehrer angekommen. Ohne Blicke aus Überland- und Vorortbussen ist Handkes Werk nicht denkbar. So wie der Name Gregor dazugehört oder die »Apfelfülle« im Garten (Obst stehlen heißt: etwas Natürliches mit sich gehen lassen, das ist fruchtigster, saftigster, gesündester Materialismus). Dieses Buch erinnert an Grundworte von Handkes Literatur: Zeit und Schwelle und Gehen und Verwandlung. Hauptworte, aber nicht vorherrschend. Denn es gibt Worte, die können nicht herrschen, so, wie die landläufige Feststellung falsch ist, ein Frieden – herrsche.

Gregor hatte auf dem »Taschentelefon« eine bittere Nachricht empfangen: Sein Bruder Hans, Fremdenlegionär, ist tot. Kopfschuss, fern von zu Hause. Gregor traut sich nicht, der Familie diese Wahrheit zu sagen. Er leidet darunter, dass gesagte Wahrheit oft genug Not bringt. Der Ausweg? »Komm herbei, Zeitalter des Verschweigens.« Spielarten des Schweigens, wie Szenen der Kindheit – keiner kann sie so wie Handke beschreiben, Universen aus Scham oder Schuld oder Scheu. Innen und außen, ein einziger flutender, sirrender Raum.

Der Erzähler macht sich dann für eine kleine Zeit wieder auf zu einer Umlanderkundung. Ob sich noch etwas gerettet hat aus der »Dörferzeit«? Handke-Klassik: Es beginnt ein Weg, eine Reise, eine Um-Schau des Erzählers, weg von jedem nur denkbaren Zentrum. Das Beste am Unterwegssein: Es will »das Sehen nicht aufhören«. Gregor sieht einer jungen Frau zu, die auf dem Sportplatz Fußball spielt – ganz allein, nur mit sich selbst. (»Ein gutes Spiel geht wortlos vor sich. Eine der Hauptregeln nicht nur für ein Fußballspiel?«) Er übernachtet in einer Straßenbahn, im Wald, in einem alten Bombentrichter, ruft Odysseus auf, den »Spätheimkehrer«. Im Gasthaus entwickelt er seine spezielle Philosophie, »er bringt Glück, der letzte Gast«.

Die Minderheit »von eher Abseitigen, von Randfiguren, von Windschiefen, von Ecken- und Winkelstehern, -hockern« – das sind sie, lauter »Letzte Gäste«, die zu feiern und zu loben sind. Letzter sein, wo alles zu Erstplatzierungen drängt. Lob der Abgedrifteten, der Absonderlichen, der Abseitigen. »Lob der Schäbigkeit. Gute schöne Schäbigkeit.«

Entdeckerisches Verirren also. Kein Handlungsverlauf. Eher ein Handlungs-Verlaufen. Des Lesers Lust muss die eines Mitreisenden sein inmitten des Ereignislosen. »Raumtreue« hat Handke das einmal genannt. Weltflucht ist das nicht. Lies, fühl, sink ein. »Einsinken«, für Handke eine Lebensbewegungsart. Die Welt ist von Lehrpfaden umstellt, lauter Sackgassen – in einem seiner früheren Bücher sprach Handke von der Alternative dazu: einem »Irrtumslehrpfad«; in Anlehnung daran wünscht er sich jetzt einen »Verlernpfad«. Wir seien »Kippfiguren«, sagt der Heimkehrer. Wenn etwas auf der Kippe steht, eröffnen sich Möglichkeiten, es gibt ein heilsames Kippen »in die richtige, die gute Lage«.

Litt einst Novalis darunter, das Unbedingte zu wollen, aber doch immer nur auf die profanen Dinge zu stoßen, so ist das Profane bei Handke das Unbedingte. Ein Güte-Manifest. Gewidmet der Fülle des Existierenden, allem, was unverfügbar bleibt für Zugriffe unserer verbiesterten Zivilisation, deren Fortschritt sie doch nur weiter verhärmt.

Herrliche Lange-Weile!, die auch diesem Buch eingeschrieben ist. Ohne jene Anstrengung eines Vokabulars, das in einem fremden Dienst stünde. Wortwerdung als Weltschöpfung; schön beschirmt vom »Himmel der Sprache«. Worte finden, nein, von ihnen überrascht werden; dem Überraschungswort im nächsten Satz ins Wort fallen; sich hinter einem Komma in Nebensätze verlieren wie in einen Wald; den Seitensträngen eines Gedankens nachgeben; freudig oder verzweifelnd verästelt bleiben; einen Gedankenstrich zu Hilfe holen, ein Semikolon dazwischengehen sehen und sich wundern, woher die Fragezeichen kommen; dann endlich einen Punkt machen – um daraufhin einen Doppelpunkt alles wieder für offen erklären zu lassen.

Gregors Wanderung will Anwesenheit feststellen: sich selber eine Art Anwesen sein, also an Wesenheit gewinnen – ohne sich in das zu verstricken, was sich Politik nennt oder Pflicht, Beruf, Partei, Engagement. Schöpferisch macht uns nicht jene Welt, die uns umgibt, sondern jene, die es nicht gibt. Deshalb werden wir, wenn wir lesen, ungemein stärker und offener, als wir gewöhnlich sind. Leichtigkeit wäre die größte Radikalität, die sich denken lässt. Wenn es sich nur halten ließe, dieses durch Poesie gesteigerte Selbstverständnis! Es lässt sich nicht halten. Denn Lust lässt sich nicht halten. So aber hält sich Lust wach.

Weltweite im Unterholz des Alltags. »Den beginnenden Regen nicht überhören.« Und auch dies nicht: »Spatzen im Straßenrandbusch: ein unsichtbares Parlament«. So könnte man die Confessio dieses Dichters zu fassen versuchen: einverstanden damit sein, ergriffen zu werden. Von aller Kreatur. Sogar vom Menschen. Der aufblicken und davon überzeugt sein kann, er werde von einem Vogelschwarm hoch über seinem Kopf – gesegnet.

Peter Handke: Die Ballade des letzten Gastes. Suhrkamp, 185 S., geb., 24 €.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal